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Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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sehr verehrt, wird aber, wenn er sie enttäuscht – was selten ausbleibt – auch schnell fallen gelassen. Ein pragmatischer Politiker sitzt an seinem Schreibtisch und beschäftigt sich mit Anträgen und Gesetzesentwürfen anstatt auf die Straße zu rennen und flammende Reden zu halten. Er begeistert ungefähr so sehr wie das Abwassersystem im eigenen Viertel. Wenn es verstopft ist, ist das Geschrei groß – tut es aber ganz unspektakulär seinen Dienst, denkt man nicht daran. Ein Politiker der jüngsten Zeit ist ein gutes Beispiel für den Typus des charismatischen Politikers: Jürgen Möllemann. Auch er konnte Menschen für sich begeistern, erreichte nach langer Zeit im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen den Wiedereinzug der FDP in den Landtag mit 9,8 Prozent, doch seine provokanten Äußerungen und seine eigenwilligen bis strafbaren Aktionen (Briefbogen-Affäre, antisemitisches Flugblatt, Verstöße gegen das Parteiengesetz) machten diese Erfolge schnell wieder zunichte. Als im Juni 2003 seine Immunität als Mitglied des Bundestages wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung aufgehoben wurde, beging Möllemann mit einem Fallschirmsprung Selbstmord.
     
    Charisma passt also nicht zu Gesetzestreuen, Tugendhaften und Hasenfüßen. Wieder klingt es so, als seien charmante oder charismatische Menschen allesamt Betrüger und Verbrecher, doch dem ist natürlich nicht so. »Anständige« Charismatiker wissen genau, wann ihre Regelbrüche harmlos sind und wann nicht, sie gehen daher auch selten in die Parteipolitik – jedenfalls nicht in funktionierenden Demokratien, das ist ihnen zu unglamourös. Lieber werden sie Künstler oder Unternehmer, gründen Nichtregierungsorganisationen oder den Club of Rome, selten geben sie sich mit einem Dasein als Angestellte/-r oder Hausfrau/-mann zufrieden.
    Roman Herzog behauptete vor zwei Jahren, es gebe nur noch einen Politiker in Deutschland, der Charisma habe, und das sei der ehemalige Vorsitzende der Linken, Oskar Lafontaine. Und tatsächlich hat die Linke ihren Erfolg im Saarland bei der letzten Bundestagswahl zu einem großen Teil dem Egomanen Lafontaine zu verdanken. Von einem Egomanen kann allerdings nicht verlangt werden, dass er bescheiden und tugendhaft ist, sich im Hintergrund hält, der Partei dient und auf seine Villa verzichtet. Zum Charisma gehört nun mal Anmaßung und wohl auch ein bisschen Größenwahn, meint der Journalist Heribert Prantl, so wie bei Franz Josef Strauß.
     
    Aus diesem Grund sind auch Helg Sgarbi und Gert Postel letztlich kriminell geworden. Denn Charme oder Charisma ist leider nicht nur auf die Glücklichen verteilt, die diese Gaben optimal nutzen können, das heißt, auf die, die noch andere Fähigkeiten besitzen. Nur wenn Talent, Durchhaltevermögen und/oder Intelligenz, Liebesfähigkeit und Charme sich auf wunderbare Weise ergänzen – so wie das bei Ruth Westheimer, Marcel Reich-Ranicki oder Klaus Kinski der Fall ist –, kann der charmante Mensch seine Besonderheiten ausleben und dafür anerkannt werden.
    Ein besonderes Lebensthema mit auf den Weg bekommen zu haben, ist aber nicht nur eine Besonderheit, sondern auch eine Aufgabe. Helg Sgarbi und Gert Postel können mit dieser »Last« sicherlich kein normales Leben führen. Wenn sie aus dem Gefängnis entlassen werden, werden sie wohl kaum jeden Tag zur Arbeit in ein Postamt, in ein Büro oder in einen Supermarkt gehen.
    Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass Helg Sgarbi das viele von den Frauen erhaltene Geld gar nicht für sich ausgegeben hat, sondern in etwas »Höheres« investiert hat, nämlich in die Sekte des italienischen Verführers Baretta. (Helg Sgarbi hat also nur Charme und kein Charisma. Denn ein Charismatiker ist unempfindlich gegen die Verführungen eines anderen Charismatikers.) Gert Postel ist es auch nie um Geld gegangen, als er sich wiederholt erfolgreich als Arzt ausgegeben hat. Bis zum Oberarzt in einer psychiatrischen Klinik in Zschadraß in Sachsen hat er sich hochgelogen, bis ihm die Rolle irgendwann keinen Spaß mehr machte und die Sache aufflog. Ein Medizinstudium zu absolvieren, war ihm aus verschiedensten Gründen nicht möglich – einer davon war, dass ihm für diesen mühsamen und nicht gerade schillernden Weg die Lust fehlte.
     
    Leute mit Charme werden meist beneidet, doch die Nachteile dieser Begabung werden gern übersehen. Etwas Besonderes zu sein bedeutet zum Beispiel auch, sich einen besonderen Platz in der Gesellschaft suchen zu müssen. Das

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