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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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erreicht. Und Dinge wie Pensionen und
zahnärztliche Versorgung fangen an wichtiger zu werden als die Ideale.
    Unruhig stand ich auf und verließ das
Büro, ging den Flur entlang nach hinten, in den Raum auf der Rückseite des
Hauses. Er war leer, und ich stand vor dem Fenster und sah dem Spiel des
bleichen winterlichen Sonnenscheins auf dem Fleckchen wilder Vegetation im
Hinterhof zu. Unter dem Fenster gab es ein Bücherregal aus Ziegelsteinen und
Brettern mit Lektüre für die Klienten, die in diesem Zimmer auf ihre Termine
warteten, oder für die Kollegen, die sich zerstreuen wollten. Die Bücher waren
abgenutzt, die meisten von den Anwälten gestiftet worden, und viele sahen aus
wie Ergänzungstexte zu längst vergangenen College-Kursen. Ich ließ die Finger
darüber gleiten, richtete die Rücken gleichmäßig in einer Entfernung von zwei
Zentimetern vom Rand des Regals aus. Dabei stieß ich auf einen Band mit Yeats
Gedichten. Ich dachte an Jimmy Milligan, zog das Buch heraus und blätterte es
durch, bis ich »All Souls Night« gefunden hatte.
    Wie Mary Zemanek gesagt hatte, war das
Gedicht unheimlich, handelte nur von Weingläsern, randvoll mit Muskateller, und
von Geistern, die kamen, um zu Mitternacht davon zu trinken. Ich sah einen Raum
vor mir, der direkt aus einem Horrorfilm zu stammen schien: von Spinnweben
verhangen, in tiefe Schatten getaucht, wohin die Geister der längst
Verstorbenen kamen, um sich miteinander zu besprechen. Schaudernd blätterte ich
weiter und las Jimmys anderes Lieblingsgedicht, »The Song of Wandering Aengus«.
Auch das war nicht sehr fröhlich, aber wenigstens verursachte es mir keine
Gänsehaut. Yeats schien von einer düsteren Besessenheit gewesen zu sein; eine
ganze Reihe seiner Strophen, die mit kursiv gedruckten Zeilen endeten, gingen
näher darauf ein.
    Verdammt, was machte ich hier, las
Gedichte, obwohl ich einen Mord aufzuklären hatte. Ich schloß das Buch, stellte
es wieder ins Regal zurück und machte mich auf die Suche nach dem Telefon,
indem ich der Schnur durch den ganzen Flur bis zu der Stelle folgte, wo das
Telefon vor der Toilette stand. Rote Tastenapparate mit langen Kabeln waren bei
All Souls Tradition — eine, die mehr Verwirrung als Nutzen brachte, weil die
Mitarbeiter die Angewohnheit hatten, während des Telefonierens zu wandern und
die Apparate dann dort stehen zu lassen, wo sie gerade waren, wenn sie
auflegten.
    Ich saß im Schneidersitz auf dem Boden
im Flur und tippte die Nummer des Sensuous Showcase Theatre ein. Nein, erklärte
mir die Frau dort, Mr. Knox war nicht zurückgekommen, ehe er heimfuhr. Und
nein, sie konnte mir die Telefonnummer seiner Ranch immer noch nicht geben.
    Ich legte auf und dachte an Knox’
beharrliche Behauptung, im Herzen wäre er ein Junge vom Lande geblieben. »Bei
Anbruch der Dämmerung bin ich daheim bei meinen Pferden«, hatte er erzählt.
Daheim, auf seiner Ranch in Marin County. Nicasio, hatte er gesagt.
    Jetzt war es halb fünf, und die erste
Welle der Pendler würde über die Golden Gate Bridge kriechen und dann den Waldo
Grade entlang bis ins Marin County. Busse würden auf der Spur dahin sausen, die
extra für sie eingeräumt worden war, aber bis ich San Rafael und die Ausfahrt
erreicht hätte, die ich nach Nicasio nehmen mußte, würde der Verkehr immer noch
im Kriechtempo vorankommen. Ich wollte aber mit Otis Knox reden, und ich konnte
im Stau genausogut grübeln wie in meinem Büro.
    Ich war argwöhnisch, wollte nicht zu
Knox’ Ranch hinausfahren, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, wo ich mich
aufhielt. Also kritzelte ich eine kurze Notiz für Hank auf ein Stück Papier, in
der ich ihn aufforderte, das Büro des Sheriffs von Marin County anzurufen, wenn
ich mich bis neun Uhr an diesem Abend nicht bei ihm gemeldet hätte. Ich schob
den Zettel unter seiner Tür hindurch und verließ das Haus, wobei ich einen
großen Bogen um Gilbert machte, der jetzt in der Bibliothek war und einen
Tobsuchtsanfall hatte, weil die Polizei so unfähig war.
     
    Das Nicasio Valley liegt im westlichen
Teil von Marin County, eingebettet zwischen San Rafael und dem Meer. Es ist
lang und schmal, umgeben von bewaldeten Hügeln und getupft von Vieh und
Pferderanchen. Als ich ankam, war es bereits dämmrig, und die Lichter der
Farmhäuser leuchteten schwach durch dichten Eichen- und Eukalyptuswald. Direkt
vor dem kleinen Dorf, nach dem das Tal benannt ist, ragte ein Hügel auf, dessen
Felsvorsprünge und abgebrochene Bäume im verblassenden

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