Neu-Erscheinung
nicht mitgemacht hat, kann leicht schwärmen.
Die Aussicht, mit ein paar Klicks einen Traummann zu finden, finde ich zwar absurd, aber nicht schlimm genug, um darauf verzichten zu können.
Da ich in meinem langen Leben immer alles hatte, was ich brauchte, außer einem vernünftigen Mann, dauert es nicht lange, bis in meinem kleinen Appartement wie von Geisterhand installiert ein Notebook mit WLan-Verbindung zu amourösen Abenteuern aller Art bereitsteht. In solchen Dingen ist ER stets großzügig, und was meine Wünsche angeht, ist ER mir stets einen Schritt voraus. ER weiß immer, was ich will, oftmals sogar bevor ich es weiß. Was IHN aber nie daran hinderte, einige meiner sehnlichsten Wünsche komplett zu ignorieren. So wie ein Vater seiner Tochter niemals ein Motocrossmotorrad schenken würde – nur dass es sich bei meinen Wünschen nie um ein solches Gefährt handelte, sondern um ganz andere Dinge, die auch sehr viel Spaß machen können und weitaus ungefährlicher sind. ER war und ist halt immer sehr fürsorglich. Normale Töchter kaufen sich irgendwann einfach vom eigenen Geld ein Motocrossmotorrad, nur um ihre Väter daran zu erinnern, dass sie endlich erwachsen sind. Nach über 2000 Jahren auf dieser Welt erübrigt sich aber dieser Ansatz für mich. Und ich muss ja auch dankbar sein, immerhin habe ich noch nie für mein Geld arbeiten müssen. Allein schon aus Sicherheitsgründen, wie ER immer wieder betont. Alles, was ich brauche, bekomme ich von IHM . Ich lebe das aus, was Adam und Eva idiotischerweise verbockt haben. Ein Leben im Paradies, ohne dafür einen Finger krumm machen zu müssen. Ich muss mich noch nicht mal dafür rechtfertigen. Und wenn mich mal wirklich einer fragt, woher ich mein Geld habe und was ich so beruflich mache, tische ich eine meiner Geschichten auf. Die Erbschaft, den Lottogewinn, die adlige Abstammung, die Jahrhundertscheidung ohne Gütertrennung und manchmal sogar die Wahrheit, die mit ein bisschen Glück auch für einen Lacher gut ist.
Seit etwa hundert Jahren lebe ich in Europa, und da speziell im Land der Dichter und Denker, und das auch nur, weil einem hier einfach weniger Fragen gestellt werden. Solange man im Besitz eines Personalausweises und einer Krankenversicherungskarte ist, werden einem nur von Mitarbeitern diverser Callcenter doofe Fragen gestellt. Ich habe natürlich eine ganze Batterie von Ausweisen und Karten, die Ausstellung von Legitimationsplastik macht IHM offensichtlich großen Spaß.
Theoretisch ist das alles die Wildcard fürs Glück. Theoretisch! Ich darf zwar entscheiden, wo das Paradies ist, zwischen Soest in Westfalen und einer unentdeckten Antilleninsel ist da alles drin, aber was zum Beispiel die libidinöse Ausgestaltung des Paradieses angeht, hat ER das Sagen. Die Wildcard fürs Glück sieht in der Praxis anders aus.
Schon nach wenigen Klicks gelange ich tatsächlich auf eine Seite mit 135 kontaktfreudigen Männern im Umkreis von nur 5 Kilometern. Mehr als die Hälfte hat nach einer großen Enttäuschung den Glauben an die Liebe noch immer nicht aufgegeben. Die restlichen Männer sind im Gegenzug bereit, sich der ersten großen Liebe zu stellen, und leiden allesamt an einer einsamen Herzkrankheit. Dabei sind spätere Heirat, Kinder und andere Partnerschaftszubehörteile selbstverständlich nie ausgeschlossen. Warum diese Männer dies alles erst im Alter von zum Teil über 40 wollen, verraten sie nicht. Wäre ja auch schön doof. Und Doofe gibt es mal gar nicht auf diesem virtuellen Kontakthof. Die außergewöhnlich hohe Zahl von gut verdienenden Akademikern und Hausbesitzern macht zwar stutzig, geht aber voll in Ordnung. Ich würde meine Vorzüge ja auch nicht in der Hüftgoldwährung anpreisen. Deshalb melde ich mich an als ›Ende zwanzig, schlank, sportlich und dem Wunder der Liebe gegenüber aufgeschlossen‹. Unter Sonstiges tippe ich ›göttliches Wesen‹, so viel Spaß muss sein.
Richtig klasse erscheint mir die Aussicht auf ein erstes Rendezvous ohne stundenlanges Aufhübschen und noch längere Suche nach dem passenden Outfit. Ich weiß, es gibt nie ein passendes Outfit, aber mit der Illusion kann man doch ganz prächtig leben. Und im Ernst, wie befreiend ist es für uns Frauen, in dieser Situation festzustellen, dass man nichts zum Anziehen hat. Gar nichts. Und dass alles, was da aus dem Schrank quillt, auf gar keinen Fall schön ist und auch nie schön war und erst recht nicht irgendwann mal gepasst hat ...
Ich entdecke
Weitere Kostenlose Bücher