Neu-Erscheinung
und suchte das Gespräch. Zum ersten Mal seit Jahren. Jedenfalls um diese Zeit. Es hatte ewig gedauert, bis wir beide uns im Klaren waren, dass das systematische und stets gerecht verteilte Zerlegen der Tageszeitung die einzige frühmorgendliche Herausforderung war, der wir uns mental und uhrzeitbedingt in vollem Umfang stellen konnten. Und ausgerechnet jetzt suchte Bettina das Gespräch. Nur eine Seite entfernt von meiner Messias.
Eigentlich suchte sie gar kein Gespräch, sondern nur jemanden, der ihr zuhörte.
»Über eine Stunde reines Blabla ... Integrationsmanagement ist jetzt das neue Zauberwort.«
Ich nickte, was keinesfalls der Aufforderung gleichkam, mir Integrationsmanagement zu erklären. Bettina erklärte trotzdem.
»Es reicht nicht mehr, nur Deutschkurse anzubieten, nein! So eine Integration von Bürgern mit Migrationshintergrund muss man managen wie einen multinationalen Betrieb. Da gibt es Integrationsstufen, Sozialisationsphasen! Für Erwachsene! Hat der sie noch alle? Hättest mal sehen sollen, wie der das Flipchart beackert hat ... der muss da monatelang dran gesessen haben. Monatelang!«
Bettinas Hautfarbe bekam an den Wangen einen leicht aufgeregten zartroten Ton. Diese Hautveränderung mochte ich sehr, wenn der Kontext stimmte. Hier stimmte er nicht. Bettinas sichtliche Erregung hatte nichts mit mir zu tun.
Die Zeitung rutschte zur Seite. Ich schob sie ihr demonstrativ näher. Bettina schob sie weg. Ich korrigierte erneut und schob sie wieder zurück. Bettina faltete sie und legte sie neben die Kaffeemaschine, die genau in diesem Augenblick ein asthmatisches Blubbern herausgurgelte.
»Da versucht einer einen Wald zu erklären, den jeder vor Augen hat!«
Ich nickte nochmal, die
Messias
war in weite Ferne gerückt.
»Weißt du, was der damit erreichen will?«
Ich bemühte mich um einen völlig teilnahmslosen Blick, was mir einigermaßen gelang. Und wenn sie gewollt hätte, hätte ihr sofort klar sein müssen, dass mich Thomas Lesniks Ziele nicht die Bohne interessierten. Bettina wollte aber nicht.
»Das kann ich dir sagen, was der erreichen will.«
Große Sätze muss man ankündigen.
»Ich sag’s dir!«
Gerne auch zweimal.
»Der will Referatsleiter werden, aber da kann er noch so schlaue Bücher lesen und dämliche Flipcharts beackern. Nee! So nicht, Kollege Lesnik, diesmal bin ich dran!«
Ich nickte schon wieder.
»Der Blödmann. Wie viel Uhr?«
»Kurz vor sieben, hast noch Zeit!«
»Was, kurz vor sieben? Oh Gott, ich wollt doch heute eher. Heute geht doch der neue Kurs los!«
Ich hätte ahnen müssen, dass dies der passende Auftakt für den gesamten restlichen Tag war.
Die Kaffeemaschine röchelte ein letztes Mal.
Ich und die Relevanz
Die letzten Stufen zur Redaktion im zweiten Stock der schlechtesten Bauhauskopie in ganz Muenden bereiteten mir mit jedem Schritt größeres Vergnügen. Die allerletzte Stufe hüpfte ich mehr, als dass ich sie ging. Die Fahrt zur Arbeit hatte mich von Minute zu Minute jünger gemacht. In diesem Moment war aus dem leidlich erwachsenen Paul Elmar Litten ein kleiner Junge geworden, mit kleinen Speckknubbeln an den Knien und etwas größeren an den Hüften, mit sommersprossiger Nase und einem Haarschnitt, der sich jeder Ordnung entzog. Und zwar in alle Himmelsrichtungen. In mir stieg die Erinnerung auf an einen einzigartigen Scherz, den ich als Elfjähriger mit großer Akribie und noch größerer Vorfreude meinem leidgeprüften Vater zuteil werden ließ. Ich hatte an seinem toilettenkachelgrünen Vertreter-Audi sämtliche Bremsscheiben mit Katzenkot eingerieben und mich exakt 226 Meter von meinem Elternhaus entfernt platziert, weil ich wusste, dass mein Vater an genau dieser Stelle zum ersten Mal bremsen musste. Seinen Blick wollte ich erleben und genießen. Beides gelang mir. Leider gelang es meinem Vater auch, mich hinter dem Stromkasten zu entdecken und blitzgescheit einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem unerträglichen Gestank einerseits und dem grinsenden Jungen hinter dem Stromkasten andererseits. Am Abend bekam ich eine Abreibung, nach der ich zum ersten Mal begriff, dass das offizielle Verbot der Prügelstrafe eine der größte Errungenschaften der modernen Zivilisation war. Nun ja, Ähnliches musste ich an diesem Morgen nicht befürchten.
Das Trommelfeuer etlicher Telefone, das durch die stählerne Feuerschutztür hämmerte, verstärkte meine Vorfreude in jeder Hinsicht. Ja, da war sie, die Relevanz. Die Relevanz ließ die
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