Neu-Erscheinung
Mund stand in diesem Moment schon ein wenig auf. Carola riss dabei den mäßig braun gebratenen Flügel mit schonungsloser Härte und geübtem Griff ab und legte das vor Fett tropfende Teilchen auf meinen Teller.
»Flügel magste doch so, oder?«
Ich sagte nichts, sondern fixierte nur das Stück Resthühnchen auf meinem Teller.
»Ich schrei jedenfalls die OP -Schwester an, wir brauchen Blut! Schnell!«
Ich brauchte einen Eimer, auch schnell.
»Da sehe ich, wie Dr.Mindis den Schnitt ansetzt.«
»Nein!«
»Doch!«
Mein Nein war ein Hilferuf, kein Zweifel an der Aussage.
»Und was macht der? Schneidet einfach so. Die Frau war bei vollem Bewusstsein! Und er, Schnipp Schnapp! Die hat nur noch geschrien!«
Ich auch, aber nur ganz tief in mir drin.
Die Masuch- SMS , die Fernseh-Vorspeise und die Vorstellung, in diesem Moment eine fast verblutende Frau mit einem Flügelknochen vergleichen zu müssen, zwangen mich, die Strecke zwischen Wohnzimmertisch und Gäste- WC in weniger als fünf Sekunden zu schaffen. Schweißüberströmt verabreichte ich einem italienischen Designerklo eine Portion gebratene Ricottaküchlein mit kleinem Tomatensalat und Bruschette, dazu Auberginen und Minze in chilenischem Cabernet mit anverdauter Menopause! Voilà!
Nach zehn Minuten kam ich zurück. Vielleicht waren es auch nur fünf, in jedem Fall war es eine gefühlte Ewigkeit, die ich in einer sehr, sehr unbequemen und erbärmlichen Körperhaltung verbracht hatte.
Ich weiß gar nicht, ob man mich wirklich vermisst hatte. Als ich gegangen war, stand nur eine Flasche auf dem Tisch, jetzt waren es drei. Nun denn, wenn man Durst hat?! Bettina sah natürlich sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte, aber leider hatte sie ihren Diskretionsapparat zu Hause gelassen.
»Paul? Du bist ja ganz blass.«
»Ich ... nee.«
»Doch, ganz blass.«
»Nein.«
»Doch. Ist dir schlecht?«
»Na-hein.«
Endlich hatten auch Ansgar und Carola Gefallen an unserer Unterhaltung gefunden.
»Ist dir schlecht, Paul?«, fragte Ansgar.
»Nein, wirklich nicht.«
»Das Hühnchen war frisch, ehrlich!«
»Alles in Ordnung, kein Problem, auch ehrlich.«
»Doch, du bist wirklich blass!« Durch Carolas Feststellung wurde mit einem Mal aus einer puren Behauptung eine präzise Diagnose.
»Mach mal dein Hemd auf!«, befahl sie im Duktus einer Pornodarstellerin.
Bevor ich ihr entgegnen konnte, dass ich den Teufel tun würde, nestelten die Finger, die vor kurzem noch ein Tranchiermesser durch den toten Körper eines Vogels gesäbelt hatten, an meinem Hemdkragen herum. Möglicherweise sah meine Frau darin die Verletzung ihres Hoheitsgebietes, denn für das Öffnen meines Hemdes war sie alleine zuständig und sonst niemand, außer mir. Aber Bettina war irgendwie ganz entspannt. Noch nicht mal ein kritischer Blick, Bettina? Was ist los? Im Idealfall duldete sie das Nesteln, um das Leben ihres Liebsten zu retten. Den Gedanken konnte ich nicht zu Ende führen, denn Carolas warme Gynäkologinnenhand fühlte an meiner Arteria carotis, ob der Erwerb eines dicken Buches für mich noch Sinn machte. Mein Puls war wieder okay und das Leben von Bettinas größtem Schatz fürs Erste gerettet. Aber Bettina schien es nicht weiter zu interessieren, ob ich mich nun mit Ach und Krach soeben noch von Gevatter Hein verabschiedet hatte. Auch für Carola schien der Vorfall unter der Rubrik Bagatellschäden verbucht zu sein.
»So, darauf trinken wir erst mal einen!«
Der chilenische Cabernet bekam ein weiteres Geschwisterchen. Und zehn Minuten später neigte sich auch diese Flasche schwer in Richtung Glascontainer. Und nachdem Ansgar so nett war, die Essensreste in die Küche zu bringen, und Carola uns vor weiteren Details aus dem Bereich Blut und Genitalfissuren verschonte, begann ich den Abend ganz allmählich sogar zu genießen. Bis zu dem Moment, als mich ein Thema einholte, das ich fast vergessen hatte. Es brodelte an der Oberfläche begleitet vom cabernetschweren Lallen unserer Damen.
»Irgendwo ... hat ... hat ... hat diese ...«
»Hannahhhhhhhhhh?«
» ... genau, diese Hannahhhh ... diese ... diese Messias ...«
»Recht?«
»Genau ... recht!«
Der chilenische Cabernet schoss meine Speiseröhre wie nach einer Druckbetankung hinab. Ich genoss jetzt nicht mehr, ich verdrängte.
»Wir Frauen werden doch von vorne bis hinten beschissen!«
»Aber genau, Bettina, genau!«
»Carola ... ich ... ich krieg so ’n Hals, wenn ich an diese ... diese Pissnelke von ...«
»Bettina,
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