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Neu-Erscheinung

Neu-Erscheinung

Titel: Neu-Erscheinung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Gantenberg
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Freiheit für Resi!«
    »Freiheit, Freiheit!«
    »Die Zeit der Unterdrückung ist vorbei. Jesus war für alle da!«
    »Auch für uns, jawoll!«
    »Wir holen sie jetzt da raus!«
    »Dann muss ich die Polizei holen.«
    »Bitte! Ihr habt keine Chance, uns zu stoppen! Wir demonstrieren im Namen des Herrn!«
    »Und seiner Tochter!«
    »Das ist doch Blödsinn, und das wissen Sie auch.«
    »Halten Sie den Mund, wer sind Sie überhaupt, Sie waren doch gar nicht dabei!«
    »Na und?«
    »Wir gehen da jetzt rein und holen sie raus!«
    »Das ist Freiheitsberaubung!«
    »Genau!«
    »Ruf die Polizei!«
    Und dann werden die Transparente ausgerollt. Die Resi-Aktivisten sind dick, dünn, jung, alt oder naiv, aber alle äußerst entschlossen. Sie glauben dem armen Mädchen, das in dieser Sekunde schon nicht mehr die Wirkung ihres ersten Sedativs spürt, das durch ihre Venen geschossen ist.
    Drei Mitarbeiterinnen des Krankenhauses beeilen sich, die entsprechenden Schritte zu veranlassen. In der Polizeileitstelle geht ein Notruf ein, und zwei Minuten später geht ein Blaulichttransporter mit einer kleinen Einsatztruppe raus.
    Ich gehe mit ruhigem Schritt zum Eingangsbereich des Klinikums, um mich nach dem Weg zur Psychiatrie zu erkundigen. Erst dann fällt mir ein, dass ich Resis Nachnamen nicht weiß, aber wozu auch. Es gibt bestimmt nur eine junge Frau, die behauptet, mich gesehen zu haben.
    Während ich mich auf die Suche begebe, wird aus einer diffusen Ahnung eine Gewissheit. Ich habe Resi gern, und ich freue mich über ihre Begeisterungsfähigkeit. Auch ich habe einmal dafür gebrannt, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Auch ich hatte mal dieses Ziel, aber es war mir abhandengekommen, irgendwo zwischen Tiflis und Heilbronn, Antarktis und Erkelenz, zwischen dem Amazonas und dem Bayerischen Wald. Auf dem Weg zur Psychiatrie in Würzburg entdecke ich dieses Ziel wieder. Und mehr. Ein Katalog von Zielen formiert sich mit jedem Schritt, der über den lieblos durchgekachelten Flur hallt. Und mit jedem Meter, den ich mich Resi nähere und je mehr Halbgötter in Weiß mit wichtiger Miene und inszeniertem Desinteresse an allem, was in den Zimmern liegt und auf den Fluren wartet, mich ignorieren, desto klarer werden meine Gedanken. Die Zeit des Aufgebens, der unkontrollierten Gewichtszunahme ist vorbei. Der Panzer, den ich mir nach unzähligen Schmerzen und Enttäuschungen angefressen habe, schnürt mir die Luft zum Atmen ab. Über 2000  Jahre sind genug, um an einen solchen Punkt der Erkenntnis zu kommen.
    Gelbe Richtungspfeile und automatische Türöffner säumen meinen Weg durch die Innere I zur Inneren II , nach rechts über einen langen Flur an der Geriatrie vorbei. An alten Menschen, die in Rollstühlen ausharren, um irgendwann weggeschoben zu werden. An Angehörigen, die mit viel zu großen Blumenvasen kleine Blumengestecke in den Händen tragen. An Vätern, die auf den schönsten Moment ihres Lebens warten, während ihre Frauen unter Schmerzen neues Leben schenken. All diese Bilder graben sich in mein Bewusstsein, und ich wende meinen Blick zum Himmel.
    »Es ist vorbei. Ich will mein Leben zurück! Ich will ein ganz normales Leben. Ich will lieben und geliebt werden. Ich will Leben schenken und eines Tages mein Leben geben. Ich will die Wahrheit nicht mehr kennen, ich will belogen werden. Ich will ein Mensch werden. Hörst du, ich will! Lass mich los! Jetzt! Auf der Stelle! Bitte! Hörst du?«
    ER hört, aber ER schweigt, wie ein Vater schweigt, der hört, was er nicht hören will. Wie ein Vater, der weiß, dass er irgendwann etwas verlieren muss, um es zu behalten. Aber ER versteht, und nur das zählt.
    An diesem Tag höre ich auf, ein Leben lang 34 zu sein.

Ich
    ›An diesem Tag höre ich auf, ein Leben lang 34 zu sein.‹
    Als ich mit meiner
Messias
begonnen hatte, erste Skizzen in einer geheimen Datei speicherte, wollte ich einen kleinen Wurf landen, der mehr Beachtung fand als 86 langweilige Zeilen aus dem Muendener Bauausschuss. Vielleicht hatte Ansgar recht mit seinem Vorwurf, dass ich mit einer kleinen religiösen Provokation unterhalb des Stammtischniveaus gondelte. Vielleicht? Nein, ganz sicher. Mehr war nicht. Jetzt schon.
    Meine Messias begann ein eigenes Leben zu führen. Ich dachte sie mir nicht mehr aus, ich musste ihr nur noch folgen. Ganz schleichend war aus einem Lokalredakteur ein Autor mit doppeltem Boden geworden. Aber solange ich die Spuren meiner alltäglichen und emotionalen Einflüsse auf die Messias

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