Neu-Erscheinung
mich daran zu erinnern, dass der Paul, den sie mal kennengelernt hatte, deutlich schlanker war und dass dieser Mann im Laufe der Jahre mehr Diäten ausprobiert hat als Keith Richards Drogen. Aber wenn man gesellig ist und schwach, sind Diäten nun mal nicht das, was man mit Konsequenz verfolgen will und kann. Mal ganz zu schweigen von zu schwerem Knochenbau, Drüsenunterfunktionen und kaum der Rede werten Stoffwechselproblemen.
»Äpfelchen? Paul? Mein Paul?«
Ansgar lachte.
»Marzipanäpfelchen, oder?«, fügte Carola hinzu. »Alles nicht so schlimm, Paul. Amerikanische Forscher haben rausgefunden, dass moderates Übergewicht nicht zwangsläufig lebensverkürzend ist.«
»Ach ja«, kommentierte ich.
»Nein, check halt die Cholesterine, mach Sport, einmal im Jahr ’ne schöne kardiologische Komplettuntersuchung, und die Rente ist sicher.«
»Das freut mich.«
»Mich auch, hab ich wenigstens noch ganz lange was von meinem Dicki!«
Bettina, nicht so, bitte. Das ist unter deinem Niveau, das weißt du, und warum kann ich dir das jetzt nicht sagen?
»Ach Gott, fast vergessen, ’n lecker Weinchen fehlt noch.«
Ansgar sprang auf, als hätte er gerade festgestellt, dass der Beginn des Zweiten Weltkrieges in seinen ganz persönlichen Verantwortungsbereich fiel. Na gut, wenn der passende Wein zum Essen so wichtig ist, kann man auch mal glaubhaft erschrocken wirken. Der Wein wartete in einer Designerkaraffe, bei perfekter Temperatur und sonstigen Idealbedingungen, die ich nicht kenne. Bettina schaufelte mir unterdessen ein paar hochkalorische Kleinigkeiten auf den Teller. Mein Magen war ihr egal, und sein aktueller Zustand war ihr nicht bekannt. Aber jemanden zu mästen, den man vorher noch Dicki genannt hat, so was hat einfach keine Würde. Geschweige denn eine Konsequenz, die ihren Namen verdient.
Die SMS legte sich wie ein frisch fixiertes Magenband um mein Verdauungsorgan. Was hatte Masuch getan, was hatte sich dieses kranke Herausgeberhirn einfallen lassen, um die frisch gereinigte Karre wieder in den Dreck zu fahren. Ich hatte keine Ahnung, ich hatte nur meinen Teller voll. Und um den Grad der Aufmerksamkeit nicht noch mehr auf den einzigen »Dicken« zu lenken, aß ich brav, was auf dem Teller war.
Ansgars Cabernet war ausgesprochen lecker und teuer. So teuer, dass ich entweder vermutete, dass ein Pharmazievertreter ihn Carola geschenkt hatte, oder aber Ansgar hatte mir ein Präsent der Muendener Wirtschaftsförderung unterschlagen. Solche Weine kauften die beiden nicht, ganz sicher nicht. Unsere Doppelverdienerfreunde investierten woanders. Teure Weine ließen sie sich grundsätzlich nur schenken.
»Lecker. Ein Italiener?«, fragte Bettina.
»Nein, nein, vom Geschmack ja, aber der Körper verrät doch ganz eindeutig seine wahre Herkunft, oder?«
Schweigen.
»Brombeeraromen, ein Hauch von Lakritz und ein klitzekleiner Anklang von Leder.«
Leder? Was hatte der Winzer denn in die Fässer gepanscht, alte Fußbälle, Omas Sandalen? Leder!
Weder Bettina noch ich hatten Lust uns zu blamieren. Und Ansgar bewahrte uns freundschaftlich davor: »Chile. 2003 . Haben wir mitgebracht.«
»Selber?«, wollte ich mit durchaus angebrachter Skepsis wissen.
»Natürlich haben wir den selber mitgebracht, den ganzen langen Weg ... aber wisst ihr warum? Die Sherpas haben sich geweigert, ihn zu tragen, wegen der langen Strecke und so.«
Bettina lächelte pflichtschuldig. Ich nicht.
»Und hier, mein Zitronenhühnchen, à la Jamie Oliver, voilà!«
Jetzt also auch noch Fleisch, was schon schlimm genug war, noch schlimmer wurde aber alles durch das darauf folgende Gesprächsthema, das Carola scheinbar passend zum Hühnchen wählte. Während die Tranchierschere das noch vollständige Flügeltier unter einem lauten Krachen in zwei Hälften teilte, ließ sie uns an ihrer Arbeit teilhaben. Carola war schmerzfrei, was das anging. Immer schon. Ich hatte es gewusst, aber verdrängt.
»Wir hatten uns also entschlossen zu operieren, die Frau lag schon mindestens eine Stunde in der Ambulanz, eine Viecherei ...«
Krach, der Mittelknochen des Hühnchens brach unter der Kraft der Tranchierschere zusammen.
»Sie hatte schon jede Menge Blut verloren.«
Der Flügelknochen ließ sich scheinbar mühelos abspreizen.
»Wir konnten aber nicht anästhesieren, gab da noch eine Anamneseproblematik ... die Frau schreit mich jedenfalls an ... ich sterbe, ich sterbe ...«
Bettinas Augen weiteten sich, ihre Hand fuhr erschrocken zum Mund. Mein
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