Neu-Erscheinung
fließend entwickelt, kann ich nicht glauben. Alles, was wichtig ist, hat eine konkrete Größe, ein Datum, einen Geruch, einen Geschmack, eine Farbe oder wenigstens eine Notiz auf einem zerknüllten Zettel ohne Rand. Wenn etwas nicht wichtig ist, kommt es auch ohne diese Dinge aus. Normalerweise mache ich mir über derartige Dinge auch keine Gedanken. Eigentlich nur, wenn es mir schlecht geht. Und es ging mir schlecht. Mir ging es immer schlecht, wenn Bettina und ich nicht im Reinen waren. In letzter Zeit stritten wir selten, was weniger an mangelnden Auslösern oder profanen Gründen lag, sondern ganz einfach nur an fehlenden Gelegenheiten. Bettinas Karriere und mein Versuch, aus meinem Leben mehr zu machen als eine konservierte Routine, ergaben kaum noch Schnittmengen.
Die jüngsten Ereignisse hatten uns jedoch wieder auf einen gemeinsamen Spielplatz geführt. Und schon wurde mir wieder warm ums Herz, und ich erinnerte mich daran, wie alles begonnen hatte.
Wir hatten uns auf einer Asta-Fete in Bielefeld kennengelernt. Studentisch organisiert waren wir beide nicht. Ich aus Bequemlichkeit und Bettina, weil sie ihre Energie nicht auf verflohten Sitzmöbeln vergeuden wollte. Aber bei Feten waren die Asta-Partymacher mit Abstand die besten. Danach kam die Katholische Studierende Arbeiterjugend und danach ganz lange nichts.
Bettina und ich sahen uns auf dieser Party zum ersten Mal. Während eine Band aus Bochum den allerletzten Atemzug der NEUEN DEUTSCHEN WELLE reklamierte, widmeten wir uns einem Asbach-Cola-Tisch, der von einem parteilosen Theologiestudenten mit Genehmigung des Asta betrieben wurde. Die Becher waren ordentlich voll, einigermaßen bezahlbar, und die Hälfte des Preises diente der Unterstützung der Sandinisten in Nicaragua.
Bettinas nassforsche Art, unser erstes Gespräch zu führen, werde ich nie vergessen, meinen Versuch, sie mit der freundlichen Unterstützung von Asbach-Cola anzuquatschen, auch nicht.
»Du auch hier?«
Man glaubt es kaum, aber genau das habe ich zu ihr gesagt. DU AUCH HIER .
»Nee, ich bin nur ihre Vertretung und ich bin ganz viele.«
Ich wusste sofort, die oder keine. Sie sah das anders. Jeden, nur nicht den.
Pussy Krull, die Band aus Bochum, beschleunigte den treibenden Neo-Beat ihrer Musik, um eher nach Hause zu kommen, und Bettina ihr Trinkpensum, um einer weiteren Anmache meinerseits zu entgehen.
Meine Optik war okay. Ich hatte ein respektables Schwimmerkreuz und eine Taille, die so manches Model neidisch machte. Nur mein Flirt-Gen war deformiert oder gar nicht vorhanden. Das jahrelange Kachelzählen beim Schwimmtraining hatte mich zwar körperlich weitergebracht, aber beim harten Training hatte ich die psychische Entwicklung auf dem Startblock des 50 -Meter-Beckens einfach vergessen.
An diesem Abend sprachen wir kein Wort mehr miteinander, obwohl ich längst für Bettina brannte. Der Versuch, diesen Brand mit Asbach-Cola zu löschen, endete auf dem Herrenklo der Maschinenbauer. Das Letzte, was ich in vollem Bewusstsein sah, war ein Anarchisten-A und die genervten Augen eines Rettungssanitäters aus Detmold. Dem ich zunächst klarmachen musste, dass alle Maschinenbaustudenten in Bielefeld Anarchisten sind, und wie zur Bestätigung, als Ausdruck meiner Überzeugung, den blütenweißen Sanitäteranzug vollkotzte.
Jetzt sah ich wieder Bettina, die auf dem Weg nach Hause war. Wahrscheinlich würde sie gleich die Türen lauter knallen als sonst und demonstrativ nur einen Teller decken. Sie würde auf dem Anrufbeantworter sehen, dass 18 Anrufe gespeichert waren, die sie ohne anzuhören löschen würde, weil sie davon ausging, dass alle 18 von mir waren. Danach würde sie sich auf das Sofa schmeißen und den Fernseher anschalten und eine Soap gucken. Möglichst die, die ich am meisten hasste. Sie würde an den unpassendsten Stellen lachen oder weinen, um mich aus der Ferne zu ärgern, und sie würde meine geliebten Zwiebelchips essen, die sie eigentlich gar nicht mag. Natürlich nicht ohne die leere Tüte demonstrativ auf dem Tisch liegen zu lassen. All das würde sie tun. Und ich hatte kein Problem damit, solange sie nicht zu anderen Konsequenzen griff.
Das Redaktionstelefon klingelte, und für einen Moment hoffte ich, dass Bettina es war, um mir mit vollem Mund zu erzählen, dass sie gerade die letzten Zwiebelchips gefuttert hatte.
»Litten, Lokalredaktion«, meldete ich mich mit erwartungsvollem Zittern in der Stimme.
»Mensch, Litten, ich bin’s, Günter.«
Wie
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