Neu-Erscheinung

ein jeder verstand. Wir hatten etwas zu sagen, und zwar nicht nur Amen. Wer es nicht glaubt, schaut in der Apostelgeschichte 18 , 26 nach. Wir waren gleichwertig und gleichberechtigt, es gab keine Diskussion darüber, warum auch. Die entsprechenden Argumente, die aus dieser Normalität quasi über Nacht ein patriarchalisches Denken machten, wurden schnell gefunden. Von wem? Von Schlaumeiern mit Bartwuchs, die auch steif und fest behaupteten, dass die Welt eine Scheibe ist, nur um zu verhindern, dass wild entschlossene Abenteurer das Gegenteil herausfinden. Haben die aber natürlich trotzdem herausgefunden, die Abenteurer.
    Die Frauen wiederum haben inzwischen herausgefunden, warum Männer sich so manche Geschichte passend machen: Es ist der verzweifelte Versuch, die Inseln der Glückseligkeit, mit dem Recht auf alleinige Präsenz und Herrschaft, zu sichern und zu verstecken. Aber ich weiß, die Inseln sind längst von uns entdeckt. Einige davon haben wir sogar schon erobert. Ich sage nur Fußball. Da sind wir Weltmeister und sie nicht. Es läuft! Und es läuft gut für uns. Auch wenn die Geschwindigkeit gelegentlich zu wünschen übrig lässt.
    Die Geschichten, die rund um meinen Bruder überliefert wurden, haben sich die Männer auch passend gemacht. Schon am Anfang der ersten Dokumentation achteten sie peinlich genau darauf, dass keine Frau dabei war, wenn sie aufschrieben, wer SEIN Wort und SEINE Gebote auf Erden verkünden sollte.
    Dass wir Frauen in den Schriften nicht maßgeblich und richtungweisend vorkommen, hat ER sich nie gewünscht. Warum wohl hat er in seiner Schöpfung darauf geachtet, dass wir die gleichen intellektuellen Fähigkeiten bekommen wie die Männer? Hätte ER gewollt, dass wir nur brave Zuhörer werden, hätte ER sich bei uns bestimmt weniger Mühe gemacht, und unsere Münder wären nicht mehr als süße Futterluken, die man je nach Bedarf auch mal küssen darf, wenn es unbedingt sein muss.
    Dass man bei der Auslegung SEINER Geschichte so viel Unwahres in die Welt posaunen durfte, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen oder wenigstens anstandshalber mit der Wimper zu zucken, erstaunt mich noch heute.
    Ich erinnere mich lebhaft an die Ausflüge mit meinem Bruder und seinen Gefährten. Er nannte sie übrigens nicht nur Jünger, sondern Freunde, so wie ich die Mädels, die mit uns gingen, Freundinnen nannte. Ja, wir alle gingen gemeinsam, und es gab keinerlei Unterschiede. Dass mein Bruder mich oft wegen meiner dezenten Fülle hänselte und mir riet, die eine oder andere Dattel doch vernünftigerweise liegen zu lassen, um stattdessen ungesalzenes Brot zu mümmeln – geschenkt. Das war nur Spaß, und ich war ja auch nicht besser. Oft genug habe ich zur Belustigung meiner Mädels seinen wippenden Gang imitiert, bei dem seine langen dunklen Haare wie Fasanenfedern in der Luft tanzten, was er auch nicht wirklich komisch fand. Vor allem, wenn die Freunde sich darüber vor Lachen ausschütteten. Aber nie, nie, nie, nie hätte er es für möglich gehalten, dass wir Frauen irgendwann einmal nicht an seiner Seite marschieren sollten. Dass wir sogar aus den Schriften verbannt würden oder höchstens noch als folkloristische Dekoration im Hintergrund zu stehen hatten. Wenn überhaupt.
    Wie oft habe ich mit IHM darüber diskutiert und, wann immer es ging, nach dem Sinn gefragt. Antworten gab es nie, schon gar nicht auf Sinnfragen aller Art. Alles, was im Laufe der Geschichte mit SEINER Botschaft geschah, schien mir auf Fehlinterpretationen aufgebaut zu sein, aber ER tat nichts, um dies zu ändern.
    Diese Gedanken nützen Resi in diesem Moment gar nichts. Was sie braucht, ist das couragierte Eingreifen einer Komplizin und keine philosophische Exkursion SEINER Tochter ins Niemandsland. Resi ist in großer Not, und ich bin ihre Retterin. Sie braucht jemanden, der sie da rausholt. Eine Freundin, die sie versteht und sich vor sie stellt. Sie braucht: MICH !
    Ich fühle mich berufen wie schon lange nicht mehr. Und würde der blonde Klischee-Hüne im weißen Pflegerdress ahnen, welche patentierte Resi-Retterin göttlichen Ursprungs in diesem Augenblick auf samtweichen Pfoten auf ihn zugeht, während er sein Gehalt für das Lösen eines XXL -Sudokurätsels bekommt, würde ihm der Schlag mit einer chromblitzenden Bettpfanne erspart bleiben. Erst gehorcht sein Körper der Gravitation, dann das wesentlich leichtere Sudokuheftchen. Gemeinsam liegen sie auf dem Boden, und fürs Erste sind alle Rätsel gelöst. Der