Neu-Erscheinung
Menschen wie mich, dem jede Form von Führung, vor allem die der aktiven, fremd und unangenehm ist. Ich hatte zeit meines Lebens keinerlei Ehrgeiz entwickelt, ein Talent in dieser Richtung bei mir zu finden oder zu fördern. Klassensprecher wurden immer die anderen, Mannschaftskapitäne auch, und den Posten des Lokalchefs in Muenden habe ich nur bekommen, weil kein anderer ihn wollte. Ich wollte ihn auch nicht, aber mich hat niemand gefragt. Anfangs hatte ich keine Probleme damit – bis zu dem Tag, an dem ich die ersten unbezahlten Überstunden befehlen musste.
»Weil wir morgen keinen Platz haben, wir schieben den Leserbrief«, entschied ich kategorisch.
»Wir?« Siggis Macht wuchs um jede Sekunde, die ich führungsunfähig und schon leicht taumelnd in diesem Raum verbrachte.
»Wir, ja!«
»Du!«
Siggi verschränkte die Arme vor der Brust. Die Begegnung mit Kevin Lehmschulte hatte aus ihm einen ganzen Mann gemacht. Seine blöden Sprüche waren mit einem Mal relevant. Vielleicht steckte auch nicht die Begegnung mit Kevin Lehmschulte dahinter, sondern nur unsere Haltung gegenüber seiner Homestory. Missachtung ist der Nährboden für mancherlei Energie. So mancher Amoklauf wäre zu verhindern, wenn man den enttäuschten Läufern gelegentlich im Vorfeld mehr Beachtung schenkte.
Warum auch immer, Siggi war auf der Siegerstraße, während ich noch immer glaubte, den Notausgang der Sackgasse zu finden, in der ich mich befand.
»Leute, mal ehrlich, ich muss mich hier nicht für jeden Scheiß rechtfertigen, schon gar nicht vor dir, Siggi!«
»Herr Litten hat recht«, ergänzte Frau Löffler.
»Dass Sie auf seiner Seite sind, war ja klar, Frau Löffler, aber ich bin hier auch Redakteur und kein kleiner Weisungsempfänger.«
Frau Löffler schluckte, der kleine Weisungsempfänger galt ihr.
»Siggi?!«
»Ja?«
Wir standen uns wie zwei Duellanten gegenüber, und dann brach Ansgar sein Schweigen.
»Wir bringen Carolas Leserbrief!«
Das konnte unmöglich sein Ernst sein.
»Was? Ansgar, das ... –«
»Wir bringen ihn. Müssen wir machen, geht gar nicht anders.«
Frau Löffler sondierte die Lage. Sie rechnete fest mit einem handfesten Konflikt, an dessen Ende sie mir einen Kaffee kochen würde oder wenigstens einen Tee. Aber ich musste sie enttäuschen. Diesmal stand sie nicht auf der Seite des Siegers. Ich hatte verloren, keine Frage.
»Gut, dann drucken wir ihn. Lokalteil eins!«
Die Lunte war ausgelegt, und ich hatte sie angezündet. Morgen würde es zur Explosion kommen. Im Sankt-Maria-Krankenhaus, bei uns, in Muenden. Aber ich hatte Bettina – und vielleicht noch eine ruhige Nacht. Ich irrte mich, in zweierlei Hinsicht.
Ich beim Frisör
Nichts läuft mehr ohne Termine. Sie sind die Handschellen der modernen Zivilisation. PIN -Nummern und Passwörter sind die Kumpels der Termine. Zu dritt sind sie unschlagbar, wenn es darum geht, einem den Alltag nachhaltig zu versauen. Gegen PIN -Nummern und Passwörter bin ich wehrlos. Man kommt ja nicht mehr ohne aus. Und selbst die Recherchemaske unserer Zeitung verweigert ohne das richtige Sesam-öffne-dich jeglichen Zugriff. Weil die Brisanz unseres Zeitungsarchivs derartig hoch und von ihrer Bedeutung nur mit den Kontodaten in Liechtenstein zu vergleichen ist, müssen wir alle sieben Tage ein neues Passwort erfinden. Klingt nicht schwer, aber wer alle aktuellen Spieler von Borussia Dortmund und den Geburtstag seiner Frau durch hat, der wird schnell merken, wie schwer es ist, alle sieben Tage etwas Neues zu finden.
Ich hatte seit vier Monaten das gleiche Passwort, und das war bislang niemandem aufgefallen: Leitplankenuschi. Leitplankenuschi ergibt bei Google null Treffer, das war mir wichtig. Denn was es bei Google nicht gibt, das kann auch kein anderer finden. Deshalb hielt ich lange Zeit Leitplankenuschi für das perfekte Passwort. Jedenfalls bis zu dem Tag, als ich es vergessen hatte und nicht mal Google beim Suchen und Finden helfen konnte. Wer jemals ein Passwort wie Leitplankenuschi vergessen hat, weiß, wie ich ge-litten habe. Alle anderen können es sich bestimmt vorstellen.
Bei Terminen ist es weniger einfach, kreativ zu sein. Entweder man hält sie ein, oder man verpasst sie. Das Verschieben von Terminen zählt nicht, wer verschiebt, hat verpasst, meine Meinung. Bei Terminen ist dennoch ein heller Geist gefordert, gerade wenn es darum geht, ohne sie auszukommen. Das geht. Man kann Brötchen kaufen ohne Termin, man kann sogar tanken ohne Termin, und auch
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