Neu-Erscheinung
Moment weit entfernt.
Meine Hände ruhen auf der Lehne eines uralten Rollstuhls, während ich auf die geschlossene Stahltür eines Aufzugs starre, den ein Unbekannter mit LISA VON DER U 8 LIEBT DOKTOR RENZMANN verziert hat. Vielleicht, denke ich mir, ist genau das der Beginn eines Lebens, wie ich es mir vorstelle: Vielleicht muss man zunächst jemanden retten, um sich selber zu helfen? Vielleicht steckt darin die Chance auf Glück, auch wenn man das nicht auf Anhieb erkennt. Während ich noch darüber nachdenke, erreicht mich die Wucht der Wirklichkeit.
Der Fahrstuhl hält mit einem lauten Ruck, und die Tür öffnet sich, mehr schwebend als mechanisch. Alles geräuschlos und geheimnisvoll. Das Innere des Fahrstuhls glänzt auffällig strahlend, und es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Fahrgastzelle jemals von einem anderen Menschen betreten wird. Es dauert ein wenig, bis ich verstehe, dass Resi und ich nicht mehr alleine sind. ER verhilft uns zur Flucht, und ich bin IHM dankbar wie schon lange nicht mehr.
Ohne Eile schiebe ich Resi hinein und weiß uns in Sicherheit.
Plötzlich hebt sie ihren Kopf und beginnt zu sprechen. Ein Wunder!
»Du bist nicht fett, du bist schön. Du bist die Tochter Gottes!«
Ich nicke und beginne zu weinen. Vor Glück.
Ich und die Nacht nach dem Tag mit
Bettina und Lesnik
Ich schlief die ganze Nacht oder tat zumindest so. Bettina stellte keine Fragen, noch nicht mal nach dem Grund meiner demonstrativen Müdigkeit. Wenigstens das hätte sie tun können. Einfach nur, um mir die Chance zu geben, von einem angeblich harten, anstrengenden Tag zu berichten. Den Gefallen tat sie mir nicht. Lächelnd wünschte sie mir einen erholsamen Schlaf, knipste das Licht aus und machte mir dann binnen weniger Sekunden vor, wie man friedlich einschlafen kann, wenn einen nichts mehr bedrückt. Ich konnte nicht friedlich einschlafen. Aber den Gefallen, sie beim Schlafen zu beobachten, den tat ich ihr nicht. Das hatte sie nun davon.
Ich, schlaflos (fast!) beim Frühstück mit Bettina
(ausgeschlafen, natürlich!)
Mein Kopf dröhnte, die letzten zwei Stunden der Nacht hatte ich mit einem schweren Albtraum verbracht. Beim Versuch, einen bereits abfahrenden Zug zu erreichen, wurde ich vom letzten Abteil des ICE Stralsund am Mantelgürtel erwischt, der sich so unglücklich mit dem Türgriff des Wagens 12 ( 2 . Klasse) verfing, dass ich von Muenden bis Paderborn mit Tempo 135 über die Bahngleise geschleift wurde. Meine Schreie verpufften im Nichts einer Landschaft, die mitgeschleifte Fahrgäste mit Ignoranz und betontem Desinteresse bestrafte. An den verschiedenen Bahnhöfen, die wir während meiner langen und extrem schmerzhaften Marter ungewöhnlich pünktlich erreichten, kümmerte sich auch niemand um den Mann hinter Wagen 12 . Erst in Paderborn wurde ich von einem albanischen Gleisarbeiter gefunden und losgebunden, kurz danach wachte ich auf. Schweißüberströmt, aber körperlich unversehrt.
Bettina las in unserer Zeitung, als wäre nichts geschehen.
»Kaffee?«
Ich verneinte mit einem kaum hörbaren »Nmhh«. Aber statt noch einmal zu fragen, las sie einfach unbekümmert weiter.
»Putscht mich zu sehr auf.« Ich bot ihr eine klar erkennbare Chance, nachzufragen. Der morgendliche Kaffee gehört zu mir wie das Öffnen meiner Augen. Aufputschgefahr kenne ich gar nicht.
»Gut.«
Diese Frau war anscheinend durch nichts davon zu überzeugen, dass es mir gar nicht gut ging. Ich hätte an einem Abteil des ICE Stralsund hängen können, und was hätte sie gesagt? »Gut.«
Ich räusperte mich. Der Klassiker.
»Erkältet?«
»Nein, warum?«
»Du räusperst.«
»Ich bin nicht erkältet.« Frag mich doch mal was anderes.
»Dann trink was.«
»Ich hab aber keinen Durst.«
»Gut.«
Damit war das Gespräch wieder beendet. Hatte sie wirklich kein Gespür mehr für mich? War sie auf dem Weg, eine emotionale Autistin zu werden? War das meine Bettina? Zu viele Fragen, zu wenig Antworten. Ich musste offensiv werden.
»Interessant?« Interesse heuchelnd beugte ich mich ein wenig vor.
»Was?«
»Was du da liest.«
»Lustig.«
»Lustig?«
»Nicht richtig, aber süß.«
»Süß?«
»Paul, ich lese noch, darf ich?«
»Natürlich, warum nicht?«
»Weil du mich ständig unterbrichst.«
»Entschuldige, Bettina!«
Meine Absicht, dem ›Bettina‹ eine deutlich hörbare Schwere zu verleihen, eine Schwere mit eingebautem Vorwurf, verpuffte im Nirgendwo. Bettina las weiter. Himmel, wie kann man nur so
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