Neuanfang
Sie war gerade dabei, sich von einem Teenager in eine wunderschöne junge Frau zu verwandeln – gertenschlank und mit dem Körper einer Tänzerin, den sie sich in unzähligen Übungsstunden erarbeitet hatte.
„Hi, ich bin Bailey Flanigan.“ Sie ließ sich Zeit und suchte den Blickkontakt zu den Juroren. „Ich werde ‚Ich bin es nicht‘ aus dem Musical Wicked singen.“
Nancy Helmes starrte Katy an, die Augenbrauen ungläubig zusammengezogen. „ Wicked ? Böse?“, murmelte sie.
Katy unterdrückte ein Lachen. „Es basiert auf der Geschichte von Der Zauberer von Oz “, flüsterte sie. Wicked war momentan das Lieblingsmusical der meisten Theaterkinder, doch der Name rief oft besorgte Reaktionen bei den anderen hervor, bis sie verstanden, worum es ging. Jenny Flanigan hatte erst letzte Woche mit Katy darüber gesprochen, dass sie im Juni einen Ausflug des Kindertheaters nach New York City organisieren wollte, um sich verschiedene Broadway-Musicals anzusehen. Wicked würde mit Sicherheit dabei sein.
Baileys Lied wurde lauter und ausdrucksstarker und sie absolvierte den einminütigen Vortrag fehlerlos. Katy war nicht so sehr von Baileys Stimme fasziniert – obwohl sie das Lied mit einer kräftigen Stimme vortrug und immer die richtigen Töne traf – sondern vielmehr von ihrem Ausdruck. Das Lied handelte von einem Mädchen, das erfuhr, dass der Mann, in den sie verliebt war, eine andere liebte. Es war voller tiefer Emotionen und erfüllt von einer traurigen Resignation. Bailey konnte diese Gefühle so überzeugend darstellen, dass eine Gänsehaut über Katys Arme lief.
Als Bailey das Lied beendet hatte, brachen die anderen Kinder in lauten Applaus aus. Sie alle mochten Bailey gern und Katy war beeindruckt. Sie musste immer vorsichtig sein, wenn es um Bailey und Connor ging – sie musste aufpassen, dass sie die gleichen Maßstäbe an sie anlegte wie an die anderen Kinder. Früher war sie sehr streng mit den Flanigan-Kindern gewesen, damit ihr niemand unterstellen konnte, dass sie sie bevorzugte. Doch wenn dies das erste Mal gewesen wäre, dass sie Bailey auf der Bühne gesehen hätte, würde Katy das Gleiche gedacht haben wie jetzt.
Sie hatten möglicherweise schon ihre Nancy gefunden.
Einer nach dem anderen betraten die Kinder die Bühne und präsentierten ihre Lieder. Zwischen den einzelnen Gruppen konnte Katy einen raschen Blick oder ein Lächeln mit Dayne tauschen. Einige der Kinder hatten ihn bemerkt, doch bis jetzt hatte ihn keiner angesprochen. Die Kinder im Kindertheater hatten sich inzwischen schon an Dayne Matthews gewöhnt. Schließlich war er oft hier. Das wussten sie. Und heute waren sie viel zu sehr mit ihren Liedern beschäftigt, um sich Gedanken über einen Filmstar zu machen, der in der hintersten Reihe der Kirche saß.
Etwa gegen acht Uhr hatte der Letzte sein Lied gesungen und Katy und der Rest des Teams gingen in das benachbarte Café, um dort zu entscheiden, wer eine Chance bekommen sollte. Zuerst schien Connor Flanigan für die Rolle des Oliver infrage zu kommen, doch dann hatte ein neuer Junge vorgesungen, Jacob, blond gelockt und mit der Stimme eines Engels. Er war vierzehn, doch er sah nicht einen Tag älter aus als elf. Wegen seiner seelenvollen Augen und der klaren Stimme war sich Katy ziemlich sicher, dass er die Hauptrolle bekommen würde.
Den ganzen Abend und noch am nächsten Tag ging die Auswahl weiter und schließlich konnte am Samstagabend die Besetzungsliste festgelegt werden. Jacob war Oliver Twist, Bailey war Nancy und Connor – in seiner ersten großen Rolle seit Tom Sawyer – sollte Jack Dawkins, den kleinen Taschendieb, darstellen. Tim Reed hatte sich auf überzeugende Art die Rolle von Bill Sikes, dem brutalen Gangster verdient, da er in seinem Lied mehr Gefühl gezeigt hatte als je zuvor. Katy konnte es kaum erwarten, die Reaktion des Publikums zu sehen, wenn er seine Rolle sang.
Samstagabend gingen Katy und Dayne zum Essen aus und als sie nach Hause zurückkehrten, waren die Flanigans am Feiern.
Ricky erwartete sie an der Tür. „Bailey und Connor haben beide tolle Rollen bekommen!“ Er warf die Hände triumphierend in die Luft und rannte zurück zur Küche. „Applaus für Bailey und Connor!“
Bevor Katy auch nur den Mund aufmachen konnte, sah sie schon, wie Jenny ihre Hände auf Rickys Schultern legte, und ihr aus der Seele sprach. „Es gibt nur gute Rollen.“ Sie grinste Katy an. Wie so viele Theater-Mütter hatte Jenny diese Wahrheit erst mühsam
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