Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
uns Kirschen. Die können wir auf der Bank essen und Kerne spucken und so tun, als wären wir wirklich Kinder.«
    »O selig, o selig, ein Kind noch zu sein.«
    »Findest du?«
    »Nur wenn mein Gedächtnis nicht funktioniert. Das ist der Beginn meines Lieblingslieds aus ›Zar und Zimmermann‹.«
    Die Kirschen waren als Süßkirschen zu sauer und als Schattenmorellen zu süß, doch Clara und Fanny waren sich einig, dass sie aus dem Paradies stammten. »Tausend Eide hätte ich geschworen, dass ich mich in diesem Leben nicht mehr verlieben würde«, erzählte Clara. »Und dann ist’s passiert. Am Tag, als ich von Erwins Stellung im Amerikahaus erfuhr und mir endgültig aufging, dass außer meiner Mutter und meinem Enkelkind kein Mensch für mich Verwendung hatte. Dein empfindsamer Vater hat mich heulend in der Küche aufgespürt und sofort begriffen, dass ich eine Schulter zum Ausweinen brauchte.«
    »Seine«, sagte Fanny. »So ist er, mein Vater, so voller Verständnis für jeden, dass man denkt, es kann nicht mit rechten Dingen zugehen, dass einer so gut ist wie er. Aber es geht mit rechten Dingen zu. Er kann gar nicht anders, als für andere dazusein.«
    Erwin war nicht da, um sich über das neue Hemd und den ärmellosen Pullover zu freuen.
    »Er ging so früh aus dem Haus«, berichtete Betsy, »als wollte er Amerika neu entdecken. Und mich hat er angestarrt, als hätte er mich noch nie gesehen.«
    »Er hat doch schon Amerika neu entdeckt«, sagte Fanny, »jedenfalls das Amerikahaus.«
    »Ausgerechnet mich hat er gefragt, ob die Friedberger Anlage vom Friedberger Platz abgeht«, wunderte sich Betsy. »Dabei habe ich alles, was in Frankfurt mit Friedberg zu tun hat, schon früher ständig verwechselt. Zum Glück war Fritz noch daheim und wusste Bescheid. Nanu, was ist denn mit euch beiden los? Ihr seht ja aus, als wäre euch das Glück über den Weg gelaufen.«
    »Ist es auch«, erklärte Clara, »mit Siebenmeilenstiefeln.«
    »Was ein neues Kleid so ausmacht. Man meint, du wärst achtzehn.«
    »Bin ich auch. Und Fanny ist meine Zwillingsschwester. Soll Erwin doch sehen, wo er bleibt. Wir stürzen uns wie Amazonen in die Schlacht, um ihm ein weißes Hemd zu verschaffen, damit jeder merkt, dass er das Zeug zu einem großen Tier hat, und der Herr ist nicht zu Hause, wenn sein Frauenvolk heimkommt. Ich dachte, er hätte heute einen freien Tag.«
    »Im Prinzip ja, aber was heißt schon Prinzip bei meinem Sohn? Er hat beim Frühstück den Mund nicht aufbekommen, noch nicht einmal, um ein Stück vom guten Marmeladenbrot reinzuschieben. Mit den Eiern, die er zu legen vorhatte, hat sich dein Bruder immer schwergetan. Dass er für euch drei die Papiere nach Palästina hatte, hat er ja Vater und mir auch erst im letztmöglichen Moment erzählt.«
    »Claudette und mir auch«, erinnerte sich Clara.
    Dieses Mal hatte Erwin neun Tage gebraucht, ehe er zu handeln imstande war. Begonnen hatte die lähmende Zeit des Zauderns mit einem Zeitungsbericht, der bereits sechs Monate alt war, als ihn Erwin entdeckte. Beim Lesen hatte ihn die Vergangenheit überrollt, er hatte sich im Sessel verkrochen wie ein verängstigtes Tier und die Tränen nicht halten können, nicht fassen können, was er las, mit aller Kraft seine Hoffnung unterdrückt und sich später noch nicht einmal durchringen können, Betsy oder Clara zu erzählen, was geschehen war. Begonnen hatte der Sturm mit einem Gewitter in Frankfurt und einem ganzseitigen Bericht in der »Neuen Zeitung« aus München.
    Meistens verbrachte Erwin die Mittagspause unter einer Kastanie in der Taunusanlage. Dort aß er die zwei Käsebrote, die ihm Betsy jeden Morgen in seine Aktentasche steckte, als ginge er noch zur Schule, rauchte hintereinander zwei Orientzigaretten und las, auf einer morschen Bank sitzend und von einer streunenden Katze umschmeichelt, mit der er stets den letzten Rest vom Käsebrot teilte, Thomas Wolfe, William Faulkner, Norman Mailer und Thornton Wilder – Schriftsteller, die er erst durch das großartige Literaturangebot im Amerikahaus kennengelernt hatte.
    Am Schicksalstag trieb ein Wolkenbruch, der genau zu seiner Mittagspause einsetzte, Erwin ins Archiv. Zufällig geriet er an eine Ausgabe der »Neuen Zeitung« vom Januar 1949, und wie immer freute er sich an den Autoren, die in der Nazizeit entweder emigriert waren oder zu Hause hatten schweigen müssen. Sie gaben nun der von den Amerikanern herausgegebenen »Neuen Zeitung« das unverwechselbare Gepräge. Zu ihren

Weitere Kostenlose Bücher