Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
klingt ganz nach freier Wahl, doch falls wir je die Freiheit der Entscheidung gehabt haben, hat man sie uns 1933 ausgetrieben.« Sie versprach Tochter, Sohn und Schwiegersohn sowie ihren beiden besorgten Enkelkindern, die Empfehlung der Rundfunkmediziner zu beherzigen. Sie hätte, erklärte sie mit einem Anflug von Ungeduld, ohnehin vorgehabt, in ihrem Nähkorb Ordnung zu machen.
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Nähkorb hast«, bemerkte Clara. »Ich kann mich auch nicht erinnern, dass du früher viel genäht hast.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Betsy. »Man kann sich ja nicht an alles erinnern. Außerdem habe ich mir sagen lassen, es ist im Leben nie zu spät für einen Neubeginn.«
Die Nachricht von Josephas Überleben hatte sie fröhlich gemacht, Josephas unmittelbar darauf einsetzende Freitagsbesuche, die jedes Mal länger wurden, taten ihr sichtbar gut.
»Mir kommt’s vor, als ob sie jeden Tag jünger wird«, flüsterte Fritz, als Betsy ihre Blumen versorgte.
»Und unternehmungslustiger«, seufzte Clara. »Sie mutet sich Dinge zu, von denen ich dachte, sie wären längst nicht mehr aktuell. Ich bin mal gespannt, was es heute sein wird. Gestern ist sie zwei Mal vom Keller bis zum Speicher gepilgert, und kein Mensch wusste, warum. Ich vermute, sie auch nicht.«
»Sie hört noch tadellos«, rief Betsy aus dem Wintergarten. »Auf dem Speicher war sie auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ich könnte schwören, ich hätte dir beigebracht, von Anwesenden nicht in der dritten Person zu sprechen.«
Kaum waren Erwin, Fritz und Fanny fort, Clara zum Einkaufen gegangen und Claudette mit Ora in den Günthersburgpark, machte sie sich zum Bäcker auf. Ihrer empörten Familie, die ihr am Abend drohte, nur noch Zwieback zu essen, wenn sie noch einmal bei Hitze bis zum Bäcker in die Vogelsbergstraße liefe, machte sie klar: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott mich in Theresienstadt am Leben gelassen hat, damit ich unter einer Kastanie in der Günthersburgallee verglühe. Außerdem hat mir der Allmächtige versprochen, mich noch nicht abzuberufen. Er weiß, dass ich auf den Besuch meiner Tochter und Enkelkinder aus Südafrika warte, ganz zu schweigen vom fruchtbaren Leon. Außerdem will Madame Sternberg unbedingt mitbekommen, was in Bonn passiert. Übrigens verkriechen sich gerade dort die Alten nicht in die Löcher, die die Jungen ihnen graben.«
»Was hat denn das mit dir zu tun?«
»Wenn das nicht naheliegend ist, was dann? Herr Adenauer macht gerade meiner gebeutelten Generation Mut. Sein Leben war auch nicht von Pappe. Jetzt ist er dreiundsiebzig, und jeder kann sehen, dass er nicht vorhat, im Schaukelstuhl zu hocken und Trübsal zu blasen, um seiner Mischpoche die Angst zu nehmen, er könnte in der Sonne wegschmelzen. Wetten, dass er Brötchen kaufen geht, so oft er will?«
Eine Woche nach diesem Gespräch zeigte es sich, dass in der jungen Bundeshauptstadt das übliche Alter für Pensionäre tatsächlich nicht von Bedeutung war. Am 12. September wurde der fünfundsechzigjährige Theodor Heuss zum ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Der weißhaarige, sympathisch wirkende Heuss, geboren in Württemberg, dreizehn Jahre lang Dozent an der Hochschule für Politik in Berlin, von den Nazis mit Publikationsverbot belegt, nach 1945 Mitbegründer der Freien Demokratischen Partei und von der amerikanischen Militärregierung zum ersten Kultusminister von Württemberg-Baden berufen, war bereits vor seiner Wahl ins höchste Amt des jungen Staats überaus beliebt – selbst bei Menschen, die das Wort Liberalität noch nie gehört hatten. Der gebildete, eloquente Politiker hatte Charme und Charisma; er war der ideale Mann, um Vertreter einer verunsicherten Nation zu werden, die mit dem Zusammenbruch Deutschlands den Zusammenbruch der eigenen Welt erlebt hatte. In sämtlichen Radiosendungen wurde von der Begeisterung der Bonner am Tag der Heuss-Wahl berichtet, von der Fahrt unter Glockengeläut zum Marktplatz und der Ansprache des neuen Bundespräsidenten, die die Zuhörer mit Hochrufen quittiert hatten. »Zeit und Bild«, die aktuelle Bildbeilage der »Frankfurter Rundschau« zum Wochenende, brachte auf der Titelseite ein ganzseitiges Foto von Heuss bei seiner Vereidigung.
»So habe ich mir als Kind immer den lieben Gott vorgestellt«, erinnerte sich Fanny. »Jedenfalls so lange, wie ich mir Gott überhaupt vorgestellt habe.«
Im Hause Sternberg waren sich alle einig: Theodor Heuss war
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