Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
berühmten Mitarbeitern zählten Max Frisch, Carl Zuckmayer, Heinrich Böll, Bert Brecht und Hans Habe.
Erwin hatte gehofft, er würde einen Beitrag von Erich Kästner finden, der das Feuilleton der Zeitung leitete, doch ehe er zum Kulturteil gelangte, stieß er auf eine Reportage über nichtjüdische Hausangestellte, die in der Nazizeit so lange, wie es ihnen möglich war, bei ihren jüdischen Arbeitgebern ausgeharrt hatten. Alle waren sie hochbetagt, die meisten lebten in München, wo die »Neue Zeitung« ja erschien, und zwei in Bayern; eine einzige Reportage führte nach Frankfurt – in ein städtisches Altersheim in der Friedberger Anlage. Das dem Bericht hinzugefügte Foto war klein und undeutlich, das Gesicht kaum zu erkennen, doch Erwin hatte nur die ersten zwei Worte der Bildunterschrift zu lesen brauchen: »Josepha Krause, die Perle aus Frankfurt. Von ›ihrer Familie‹ kam keiner zurück«.
Er wusste später nicht, was er empfunden hatte, wie er die Bilder der Vergangenheit hatte aushalten können, wie das Glück, das ihn betäubte, und was ihn aus seiner Benommenheit herausgeholt hatte. In Erinnerung blieben ihm nur die Tränen, die ihn erlöst hatten. »Die heute neunundsiebzigjährige Josepha Krause«, hatte er endlich lesen können, »hat ihr ganzes Leben bei Johann Isidor Sternberg und seiner Frau Betsy in Frankfurt gearbeitet. Sie hat zur Familie gehört, fünf Kinder großgezogen und sie so geliebt, als wären es die eigenen. Hinter einem Zaun versteckt, hat sie gesehen, wie fünf Mitglieder ihrer Familie – darunter zwei Kinder – aus Frankfurt deportiert wurden. Josepha hat keinen der geliebten Menschen wiedergefunden. ›Es ist, als wären sie nie gewesen‹, sagt die alte Frau. Sie weiß nur, dass die jüngste Tochter nach Südafrika ausgewandert ist, ›aber‹, weint sie‚ ›ich habe keine Adresse, ich weiß nicht einmal, wie Leon, der unsere kleine Alice geheiratet hat, mit Nachnamen heißt‹.«
Das Altersheim, ein Gebäude aus den Dreißigerjahren, umzäunt von einer niedrigen, akkurat geschnittenen Hecke, stand in einer Grünanlage. Das im Krieg beschädigte Dach und die Hausmauern waren mit den dürftigen Mitteln der Notzeit repariert worden, das Holzwerk verrottet, ein Flurfenster immer noch mit Brettern vernagelt. Jedoch war der mit weißen Steinchen gepflasterte Weg zum Haus geharkt, die Haustür war frisch gestrichen, der Türknauf glänzte in der Morgensonne. Vor dem Haus saßen auf Küchenstühlen drei Männer in Hausschuhen und grauen Hemden und drei Frauen in verwaschenen Kittelschürzen und braunen Wollstrümpfen. Eine Alte mit einem Kindergesicht und rosigem Teint wiegte eine gelbhaarige Stoffpuppe und sang: »Der Kuckuck wird nass.«
Erwin war noch am Überlegen, woher er das Lied kannte, als ihm die ausgemergelte Greisin neben der Puppenmutter auffiel. Ihr Haar, grau und fettig, reichte ihr bis zur Taille, die Hände waren feuerrot, die Arme sahen aus wie verdorrte Zweige, die Füße steckten in Militärstiefeln. Die Alte zeigte mit ihrem Stock auf Erwin. Mit überraschend kräftiger Stimme schrie sie: »Mach die Tür zu, du Lümmel, sonst jag ich dich durch den Schornstein. Dein Vater hat auch nicht glauben wollen.«
Obwohl Erwin keinen Moment zweifelte, dass die Frau krank war, duckte er sich. Die gespenstische Gestalt hatte ihm klargemacht, dass er keine Ahnung hatte, in welchem Zustand Josepha sein würde. Er hatte sie zuletzt im Jahr 1937 gesehen. Würde er sie überhaupt erkennen? Und sie ihn? Woher nahm er das Recht, einer alten Frau die Ruhe zu nehmen, sie mit dem Schmerz der Vergangenheit zu konfrontieren?
Er begriff, weshalb die Heimleiterin am Telefon misstrauisch und ablehnend gewesen war. Sie hatte von »unnötiger Aufregung«, »falschen Hoffnungen« und »Verwechslungen« gesprochen, »die die Menschen hier nicht mehr ertragen können«. Allein Erwins Hinweis auf seine Stellung im Amerikahaus und ihre von ihm nicht widersprochene Annahme, sie hätte es mit einem amerikanischen Offizier zu tun, hatten Heimleiterin Braumann zu der Zusage bewegen können, »Herrn Dr. Sternberg« zu empfangen.
»Wo«, fragte Erwin, »finde ich Fräulein Braumann?«
»Nirgendwo«, sagte die Frau mit der Puppe.
»Irgendwo«, kicherte die Frau mit dem Stock, »irgendwo im Lakritzebaum.«
»Hören Sie nicht auf das Weibergeschwätz«, sagte einer der Männer. »Die ticken hier alle nicht richtig. Die eine war zu lange verschüttet, die andere mit der Puppe glaubt, es ist
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