Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
ein Glücksfall. Ein Hoffnungsträger, wie er einer war, hatte es nicht nötig, seine Vergangenheit zu retuschieren und sich mit seiner weißen Weste hervorzutun. Heuss entsprach in allem dem Wunschbild vom »anständigen Deutschen«. Menschen wie er machten es Juden überhaupt erst möglich, über eine Zukunft in Deutschland nachzudenken. Das eindrucksvolle Zeitdokument aus der »Rundschau«, das Claudette in die Sammlung einfügen wollte, die sie für ihre Tochter anlegte, fiel allerdings um Jahre zu früh in Oras Hände. Sie brauchte nur fünf Minuten, um den Mann der Stunde grausam mit Rotstift zu malträtieren – und bezog dafür die erste schmerzhafte Lektion ihres Lebens. Erteilt wurde ihr die von ihrer Urgroßmutter. Die Siebenundsiebzigjährige war seit dem ersten Wiedersehen mit Josepha nämlich nicht nur hochgestimmt und erstaunlich aktiv, sondern auch so energisch und reaktionsschnell, wie sie Clara und Erwin aus der eigenen Kindheit in Erinnerung hatten.
»Das ist allerbeste Familientradition«, erklärte Clara ihrer empörten Enkeltochter. »Deine liebe gute Uromi hat früher auch deine liebe gute Omi verhauen.«
»Debbie auch«, schniefte Ora, legte ihre Puppe übers Knie, nannte sie ein »böses Mädchen« und drosch mit beiden Händen auf sie ein.
Drei Tage nach der Wahl von Heuss zum Bundespräsidenten wurde Konrad Adenauer, CDU-Vorsitzender in der britischen Zone, im Alter von dreiundsiebzig Jahren zum Bundeskanzler gewählt. Der Kölner war von 1917 bis 1933, als ihn die Nazis aus seinem Amt entließen, Oberbürgermeister in seiner Heimatstadt gewesen und 1944 nach dem missglückten Bombenattentat auf Hitler verhaftet worden.
»Der sieht so aus«, stellte Clara fest, als sie ein Foto von Adenauers Vereidigung sah, »als lässt er sich nicht so schnell die Butter vom Brot klauen.«
»Hauptsache, er klaut uns nicht die Butter vom Brot«, analysierte Erwin, »um daraus Kanonen zu machen. Ist schließlich alles schon mal da gewesen in unserem Vaterland, dem teuren.«
Obwohl die Frankfurter in Adenauer immer noch den Spielverderber sahen, der dafür gesorgt hatte, dass Bonn und nicht Frankfurt Hauptstadt geworden war, waren sie von ihm nicht weniger beeindruckt als der Rest der jungen Republik. Der hagere Mann mit dem Charakterkopf, dem scharf gemeißelten Gesicht, dem rheinischen Dialekt und dem dazu passenden schnellen Witz hatte bei seiner Wahl die denkbar knappste Mehrheit erhalten. Bundeskanzler war er nur dank seiner eigenen Stimme geworden.
»Hätte ich den Mut gehabt, für mich selbst zu stimmen«, erinnerte sich Fritz, »wäre ich in die Annalen derer von Feuereisen als Klassensprecher der Obersekunda eingegangen. Mir hat damals auch nur eine Stimme gefehlt. Das habe ich geahnt, doch ich hätte es nie fertiggebracht, für mich selbst zu stimmen. Nicht weil ich zu bescheiden war, sondern weil ich zu viel Angst hatte, das Manöver könnte publik werden, und meine lieben Mitschüler würden mich als frechen Judenlümmel beschimpfen. Von einigen Lehrern, die eine Abneigung gegen Schüler mit der falschen Konfession hatten, ganz zu schweigen.«
»Bei uns war’s nicht viel anders. Ich habe schon damals gefunden, dass Heinrich Heine gar nicht so unrecht hatte, als er sich taufen ließ«, sagte Erwin.
»Meinst du das im Ernst?«
»Quatsch. Heine hat sich doch zwischen alle Stühle gesetzt. Oder glaubst du, jemand anders als ein Jude kann den Rabbi von Bacherach schreiben? Ich bekomme heute noch einen Kloß im Hals, wenn ich an die Ausgabe mit den Lithografien von Max Liebermann denke, die ich mal besessen habe.«
»Mein Gott«, sagte Fritz bewegt, »an den Rabbi von Bacherach habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Meine Mutter hat ihn mir vorgelesen, als ich elf Jahre alt war und Ziegenpeter hatte. Ich bin heute noch stolz darauf, dass ich ihr nicht verraten habe, dass mir Karl May viel besser gefiel. Bei dem kannte ich mich aus wie in meiner Westentasche. Winnetou war gerade herausgekommen.«
»Hauptsache, du kennst dich auch mit meinem Schwager Fritz aus. Der hat nicht nur den Rabbi von Bacherach vergessen. Er vergisst permanent, seinen ratlosen Verwandten mitzuteilen, weshalb er seit Tagen mit so einem zufriedenen Gesicht durch die Wohnung läuft. Gib zu, Alterchen, du hast den Haupttreffer in der Lotterie gelandet.«
»So ähnlich«, lenkte Fritz ab. »Clara hat mich noch rechtzeitig davon abgehalten, meine kostbare Zeit zu verschwenden. Ich wollte mit ihr in den Film
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