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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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immer noch Krieg. Fräulein Braumann ist in die Stadt gegangen.«
    »Und wann kommt sie zurück?«
    »Hoffentlich nie. So eine braucht hier keiner.«
    Obwohl die Haustür quietschte, merkte Erwin nicht, dass sie von innen aufgezogen wurde. Ohne Fräulein Braumann, die trotz ihrer Vorbehalte zugesagt hatte, ihn zu empfangen, fühlte er sich als Eindringling. Seine Hilflosigkeit beschämte ihn, seine Stirn war feucht, er nestelte an seinem Hemdkragen herum, sagte »Ach« und hatte das starke Bedürfnis, die wirre Alte mit dem Stock zu schütteln. Da hörte er den Aufschrei.
    Der war so unerwartet und durchdringend, dass Erwin sich die Ohren zuhielt wie ein erschrockenes Kind. Es gelang ihm noch, sich umzudrehen. Dann blendete ihn ein Strahl aus Blitz und Feuer, und doch sah er sie. Er erkannte ihre Augen, den Mund, den Trotz, die Beherztheit. Wie ein Ertrinkender nach dem Seil griff er nach dem Glück, und Arme, die noch kräftig genug waren, dieses Glück zu halten, drückten ihn in die Seligkeit hinein.
    »Das gibt es nicht«, flüsterte Erwin, »das kann nicht wahr sein.«
    »Mein Bub«, schluchzte Josepha, »mein Hätschelbub. Warum hast du mir nicht geschrieben, dass du kommst? Jetzt habe ich noch nicht einmal einen Keks für dich.«

6
Der Höhepunkt
September 1949
    »Alles wie gehabt«, seufzte Betsy. »Im September habe ich nie gewusst, wo mir der Kopf stand. Feiertage haben mich eben schon damals aus der Ruhe gebracht.«
    »Dieses Jahr brauchst du nichts auf die Feiertage zu schieben«, sagte Erwin. »Die Hitze ist an allem schuld, was dem Kopf widerfährt. Die Hitze, die Radfahrer und die Juden. Ich habe mich die ganze Nacht im Bett herumgewälzt, und sämtliche Schafe, die ich zählte, waren pitschnass.«
    »Heute«, wusste Fanny, »soll’s noch schlimmer werden mit den tropischen Temperaturen. Überall gibt’s hitzefrei, nur nicht in der Hölle und bei Rechtsanwalt Dr. Feuereisen.«
    Der Wettermann vom AFN, dem bei der deutschen Jugend besonders beliebten Rundfunksender für die amerikanischen Soldaten, hatte morgens um sechs gewitzelt: »In old Germany droht der kochende Montag.« Morgens um acht Uhr stand der Wagen vom »Eis Günther«, der die Haushalte mit dicken Eisstangen für die Eisschränke belieferte und sonst nie vor elf Uhr eintraf, vor dem Haus. »Sonst schmilzt Ihr schönes Eis schon auf meinem Rücken, Frau Sternberg«, schnaufte der Eismann. Betsy gab ihm eine Mark Trinkgeld, statt wie sonst fünfzig Pfennig. Claudette lächelte ihn mitleidig an, Clara steckte ihm eine Flasche Bier aus dem Vorrat zu, der eigens für Handwerker gehalten wurde. Betsy hatte darauf bestanden, die freundliche Gewohnheit aus alter Zeit wieder einzuführen.
    Noch wehrten sich die gelben Rosen im Vorgarten gegen die verspätete Hitzewelle, doch in der Anlage waren Büsche und Rasen versengt. Die Eichhörnchen, die bis vor zwei Tagen ihre Wintervorräte über die Straße geschafft hatten, ließen sich nicht mehr blicken. Alte Frauen in Kittelkleidern schützten sich mit aufgespanntem Regenschirm gegen die Sonne. Selbst Geschäftsmänner verzichteten auf den Hut.
    Die Rothschildallee wurde auf beiden Seiten von einem städtischen Fahrzeug bewässert, eine Gruppe barfüßiger Jungen in Lederhosen und ohne Hemd lief kreischend hinterher und ließ sich nass spritzen. Ora im Blumenrock, auch sie mit nacktem Oberkörper, bloßen Füßen und schwitzend wie der Eismann, stand am Wohnzimmerfenster. Sie drückte die dunkelhäutige Puppe mit dem bunten Bastrock an sich und sagte mit der Bettelstimme, die sonst nie ihre Wirkung verfehlte und auf die diesmal noch nicht einmal ihre weichherzige Mutter reagierte: »Debbie will auch.«
    Der Abreißkalender im Flur zeigte den 5. September. Er bot als Losung des Tages das Sprichwort »Lieber das halbe Ganze als das Ganze halb« an, erinnerte an den Geburtstag des berühmten Malers Caspar David Friedrich im Jahr 1774 und schlug als Montagsmenü Speckkartoffeln mit gefülltem Kohlrabi und sächsische Quarkkeulchen in Vanillesoße vor. Der Hessische Rundfunk meldete in einem Abstand von dreißig Minuten, Temperaturen von dreiunddreißig Grad seien zu erwarten, es würde der heißeste Septembertag seit dem Jahr 1849 werden. Die Sonne wäre besonders gefährlich für Säuglinge und chronisch Kranke. Laut Empfehlung der Ärzte sollten alte Menschen, Herzkranke und Lungengeschädigte nur aus dem Haus gehen, wenn es unbedingt nötig wäre.
    »Unbedingt nötig«, mokierte sich Betsy, »das

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