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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Sie war zehn Jahre alt, als ihre Kindheit ermordet wurde und sie leben musste, als wäre sie nie auf die Welt gekommen. Sie hat Mutter, Bruder und Großvater im KZ verloren. Bis sie ihre Großmutter wiederfand, musste sie glauben, sie allein hätte überlebt. Es fiel mir sofort auf, wie sie an ihrer Großmutter hängt, wie besorgt sie um Betsy ist, wie sehr sie diese bemerkenswerte Frau bewundert. Wenn die beiden zusammen sind, ist es immer, als versuchte Fanny, die verlorene Zeit wieder einzuholen.
    Es ist keine drei Jahre her, dass ihr totgeglaubter Vater aus Holland zurückkam. Die beiden waren mehr als acht Jahre voneinander getrennt. Und wenn ich auch nicht viel mehr von Fritz weiß, als dass er ein herzensguter und sehr kluger Mann ist, der seine Tochter so liebt, wie es sich wohl keiner vorstellen kann, der nicht das gleiche Schicksal von Verlust und Trennung erlitten hat wie die beiden, so spüre ich doch immerzu, dass Vater und Tochter das Leben ohneeinander nicht mehr werden ertragen können. Da soll ausgerechnet ich dieser Tochter klarmachen, dass es für sie das größte Glück auf Erden wäre, einem wildfremden, dahergelaufenen Burschen, der doppelt so alt ist wie sie, in ein fremdes Land zu folgen? Soll ich mit dieser Frau, die mit zehn Jahren ihre Mutter und ihren Bruder verloren hat und die es bis heute nicht fertigbringt, darüber zu sprechen, soll ich mit ihr über die biblische Ruth plaudern? Komme ich mit leichter Zunge und ganz zufällig auf den Satz »Wo du hingehst, will auch ich hingehen«, und schauen wir beide uns dann beglückt in die Augen und beteuern, Schöneres hätten wir noch nie gehört?
    Soll ich, Señor Arbol, der noch nicht einmal die Courage gehabt hat, in einem Spanisch sprechenden Land den Familiennamen zu behalten, den seine Väter jahrhundertelang in Ehren hielten, Fräulein Feuereisen Fotos von unserem schönen Haus und dem prächtigen Garten zeigen? Du könntest mir ja trotzdem welche schicken. Vielleicht kommen sie rechtzeitig in Frankfurt an und sind von Nutzen. Ich könnte Fanny schildern, wie warmherzig, freundlich und hilfsbereit meine Familie ist, wie herzerwärmend die Feste in unserer Gemeinde sind und wie bewegend die Gottesdienste. Natürlich muss ich ihr Montevideo mit seinen herrlichen Parks, den breiten Alleen und den unglaublichen Gärten in allen Farben des Regenbogens beschreiben, den Leuchtturm darf ich nicht vergessen und erst recht nicht den Hafen und die Häuser im spanischen Kolonialstil, die mich noch heute beeindrucken. So genau wie nur möglich sollte ich Fanny berichten, wie liebenswert und gastfreundlich die Menschen sind – immerhin haben sie uns 1938 zu einem Zeitpunkt aufgenommen, als die meisten Länder schon das Schild »Für Juden geschlossen« an ihrer Grenze hängen hatten. Ob es bei dieser bescheidenen jungen Frau Eindruck macht, dass wir einen Ford haben, in dem nicht nur die ganze Familie Platz hat, sondern auch Kinderwagen und Hund, und dass ich heute so weit bin, dass meine Frau nach menschlichem Ermessen nie wird mitarbeiten müssen, dass Freund und Feind mich achten, mein Bankier mich mit Respekt grüßt und der Schneider meine Maße auswendig kennt, wenn ich einen Anzug bestelle? Bestimmt wird es sie interessieren, dass Kindermädchen und Köchin hier schon bei Mittelstandsfamilien eine Selbstverständlichkeit sind. Ich bin sicher, auch unser Paco und unsere Pica würden ihr ausnehmend gut gefallen, denn sie liebt Tiere sehr, und Hund und Katze, die zusammen in einem Bett schlafen und aus einem Napf fressen, sind ja wahrhaftig eine Seltenheit. Auch nicht selbstverständlich dürfte es sein, dass im Nachbarhaus meine wunderbare Schwester wohnt, die einen unglaublich großzügigen Mann hat, drei reizende Söhne, die das Herz ihres Onkels wie Butter in der Sonne schmelzen lassen, und einen Sechsmonatsbauch. Jedes Mal, wenn ich sehe, wie Fanny mit der kleinen Ora umgeht, wird mir klar, was Kinder für sie bedeuten.
    Ob dieses Paradies auf Erden, das ich hier beschworen habe, das Leben mit einem Vater aufwiegen kann, der nervös wird, wenn seine Tochter nur zehn Minuten später als gedacht nach Hause kommt, und dessen Augen aufleuchten, sobald er von ihr spricht? Fritz und Fanny haben zu viel Verzweiflung hinter sich, sie waren dem Tod zu nah, um sie mit der Latte zu messen, die man sonst anlegt. Der Vater hat die Tochter tot gewähnt und die Tochter den Vater. Wenn die beiden so eng beieinandersitzen wie sonst nur ein verliebtes Paar

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