Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
natürlich?«
»Mein Vater hat immer gesagt, der Nikolaus ist nicht jüdisch, und jüdische Kinder werden nicht von christlichen Heiligen beschenkt. Vor drei Tagen hat er die Zeit zurückgedreht und genau das wieder gesagt. Erwin hatte vorgeschlagen, sich einen Bart anzukleben, Claudettes roten Mantel anzuziehen und bei Ora als Nikolaus zu erscheinen, um ihr mit Rute und Sack zu drohen, weil sie abends immer so ein Theater macht, wenn sie ins Bett soll. Ich hatte gedacht, mein Vater und Betsy fressen meinen geliebten Onkel auf der Stelle auf. Selbst Clara, die ja sonst alles gut findet, was ihr Bruder sagt und tut, hat ihn fassungslos angesehen.«
»Das nenne ich jüdisches Bewusstsein. Das würde meiner Mutter mächtig imponieren. Sie kann es nicht haben, wenn das Kindermädchen einen von Rosels Buben mit in die Kirche nimmt.«
»Schade, dass deine Mutter meinen Vater nicht kennt. Die beiden würden sich prächtig verstehen.«
»Vielleicht besucht er uns mal in Montevideo. Wir sind eine besondere Familie. Genau wie ihr. Sorry, aber ich komm vom Nikolaus und den Äpfeln nicht los. Als du bei Anna und Hans gelebt hast, konnten sie dich doch nicht leer ausgehen lassen, wenn sie ihre Kinder beschenkt haben.«
»Das hätten sie nie getan, aber damals gab’s weder Nuss noch Mandelkern und Weihnachten auch nur einen Apfel pro Sippe. Wer seine Stiefel vor die Tür gestellt hätte«, lachte Fanny, »hätte ganz schön alt ausgesehen. In der Zeit der Not haben die treuen, ehrlichen, grundanständigen Deutschen nämlich so geklaut wie die Zigeuner, die sie immer noch verachten.«
»Ach, Fanny, ich hör dich so gern lachen.«
»Ich auch«, sagte Fanny. »Wenn ich mich lachen höre, mache ich mir immer klar, dass wir wieder was zu lachen haben.«
»Manchmal redest du wie dein Vater.«
»Wundert dich das, Don Juan? Wir sind doch den ganzen Tag zusammen, er und ich.«
»Nein«, sagte er, »das wundert mich kein bisschen. Ich staune nur, dass dir das nie zu viel wird.« Als ihm bewusst wurde, was er gesagt hatte, begriff er, dass er kein besseres Sprungbrett hätte finden können, um zu dem Thema überzuleiten, das ihn seit sechs Wochen beschäftigte. War es Zeit zu der Frage, die in ihm brannte?
Fanny steckte ihre rechte Hand in seine Manteltasche. Er konnte ihr Gesicht im Schein der Straßenlaterne sehen, doch sie bemerkte nichts von der Anspannung in seinem. »Keine Minute ist mir zu lang, wenn ich mit Vater zusammen bin«, erklärte sie. »Wir haben so viel nachzuholen, dass unser Leben nicht reichen wird. Guck nicht so erstaunt, Meister Don. Manchmal sage ich mir ja selbst, dass ich mich aufmachen müsste, um die Welt zu entdecken, statt mit meinem Vater in einem viel zu kleinen Zimmer zu hocken und seine Briefe und Schriftsätze zu schreiben, aber dann frage ich mich sofort, was ich in der Welt soll. Wahrscheinlich habe ich als kleines Mädchen zu oft gesagt: ›Ich heirate Papi‹.«
8
Ein Stück vom Himmel
Dezember 1949
Wie jeden Dienstag, seitdem »die Patientin Josepha Krause, von Beruf Köchin, derzeit ohne feste Adresse, sowohl mittellos wie außerstande, sich ausreichend körperlich zu versorgen« vom Hospital zum Heilig Geist an das Altersheim in der Friedberger Anlage überwiesen worden war, gab es zum Abendessen um sechs Uhr eine mittelgroße Schüssel Graupensuppe, zwei Scheiben Graubrot, wahlweise Margarine oder Magermilchquark und zwei Tassen Hagebuttentee mit Süßstoff. »Süßstoff nach Belieben«, pflegte Frau Braumann, die Heimleiterin zu scherzen, wenn sie, was nur in Ausnahmefällen vorkam, gut aufgelegt war.
Josepha, die beim Anblick der Graupensuppe noch weniger Appetit hatte als sonst beim Abendessen, schaute angeekelt auf Frau Mundig im rosa Schlafrock. Die saß zu ihrer Linken und versuchte, ihrer blond gelockten Puppe Gerda, die sie sich von keinem wegnehmen ließ, erst den Tee und dann die Suppe einzuflößen. Als sie ihre eigene Mahlzeit beendet hatte, summte Frau Mundig die Melodie von »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«.
Ihren Nachbarn zur Rechten wünschte Josepha, wie jeden Abend seit sechs Jahren, drei Monaten und fünf Tagen, ebenso zum Teufel. Wilhelm Friedrich Neufeld, in seinem ersten Leben Heizer bei der Reichsbahn, hatte nicht nur die laute Stimme der Schwerhörigen, er hatte von zwei Kriegen und den ihnen folgenden Notzeiten die Angewohnheit beibehalten, sich in unbeobachteten Momenten an den Brotvorrat des Nachbarn zu machen. Bereits nach den ersten paar Löffeln
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