Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
und ich schamlos genug bin, sie zu beobachten, ohne dass sie meiner Unverfrorenheit gewahr werden, dann brennt mein ganzer Körper vor Scham. Dann komme ich mir vor, als hätte ich mit dem Schwert des Teufels eine heilige Mauer niedergeschlagen.
Woher soll denn einer, den Gott rechtzeitig aus dem Land der Barbaren herausgeführt hat und der sein Leben lang nur wird ahnen können, was seinen Brüdern und Schwestern angetan wurde, das Messer nehmen, um das Band zu zerschneiden, das Fanny und ihren Vater aneinanderfesselt? Ist es Sünde, ist es Größenwahn, es trotzdem zu versuchen? Wenn ich mit Fanny zusammen bin, kann es geschehen, dass wir wie Kinder lachen und dann nicht wissen, was uns so fröhlich macht. Wenn ich ihr anvertraue, was ich keinem je erzählen wollte, dann frage ich mich, weshalb ausgerechnet ich einen Traum aufgeben soll, der noch gar nicht begonnen hat. Sobald ich mir jedoch klarmache, wie wenig Zeit mir bleibt, um das Unmögliche möglich zu machen, dann finde ich es Gotteslästerung, überhaupt an eine Zukunft mit Fanny zu denken.
So wenig wie ich nach den Erlebnissen der Pogromnacht und Emigration meine Eltern zurücklassen könnte in einem Land, das trotz seiner Schönheit nie das ihre sein wird, so wenig wird sich Fanny von ihrem Vater trennen können in dem Land, das ihm Frau und Sohn genommen hat. Ich weiß nicht, Mama, ob ich Dir hier von meiner Liebe schreibe oder von meiner Verzweiflung. Ich bete zu Gott, dass er mich wenigstens das rechtzeitig wissen lässt. Ich weiß, dass Du mir am besten raten kannst. Als ich mich mit acht Jahren in meine Klassenlehrerin mit der blonden Haarkrone verliebte und sie nur Augen für einen blauäugigen Schönling hatte, der immer in Lederhosen und mit einem Taschenmesser in die Schule kam, hast Du ja auch Rat gewusst – und es abgelehnt, mir eine Lederhose zu kaufen. Auf das Taschenmesser hatte ich mir sowieso keine Hoffnung gemacht.
Vielleicht wunderst Du Dich, weshalb dieser Brief so lang geworden ist und ich Dir alles von Monte erzählt habe, was Du ohnehin weißt, aber alles niederzuschreiben und dann auch noch der Mutter anzuvertrauen, die mit geschlossenen Augen mehr sieht als andere mit einem Fernrohr, hat mir richtig gutgetan; beim Schreiben hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, ich wüsste, woran ich bin. Welch ein Glück, dass Dein ahnungsvoller Sohn sich die Mühe gemacht hat, Kohlepapier aufzutreiben (was hier so knapp ist wie früher das Brot). Auf die Weise kann er einen der wichtigsten Briefe, die er je in seinem Leben geschrieben hat, so oft lesen, bis ihm vielleicht doch ein Licht aufgeht.
Mein Schiff geht am 23. Februar. Ich bin dann bestimmt, so Gott will, rechtzeitig zur Geburt von Rosels Kind da. Hat sie schon ein Gefühl, ob es ein Mädchen wird oder der vierte Teil von einem Bubenquartett? Schlachtet man auch ein Kalb, wenn der heimkehrende Sohn nicht ein verlorener war, sondern nur ein »Verirrter« und »Verwirrter«?
Wenigstens das Geschäftliche erledigt er so, als wäre er noch ganz klar im Kopf.
Dir und Vater, Rosel, Pablo und den Engelskindern viele Küsse der Sehnsucht von
Deinem Sohn Hans
Auf allgemeinen Wunsch und um Verwechslungen mit Hans Dietz zu vermeiden, der vor zwei Tagen mit Anna und den drei Kindern in die Parterrewohnung eingezogen war, nannte sich Hans Baum in der Rothschildallee genauso wie in Montevideo, nämlich Juan. »Don Juan, bitte«, korrigierte Fanny jedes Mal, wenn er den Titel wegließ. »Das klingt so romantisch. Ich denke dann immer an die sündige Spanierin, die nackt auf dem Sofa liegt und die mir mein Vater zeigen will, sobald wir reich genug sind, die Welt zu bereisen. Das hat er mir bei unserem ersten gemeinsamen Ausflug versprochen. Wir saßen auf einer Bank im Zoo und versuchten zu begreifen, dass wir nicht tot waren.«
Als sie und Don Juan sich am Montagabend zum Kino aufmachten und an der neuen Dietzschen Wohnung vorbeikamen, starrte er auf die drei Paar Kinderschuhe vor der Tür. »Ich dachte, das macht man nur in ganz vornehmen Hotels.«
»Was? Kreischen wie die Hottentotten?«
»Nein, die Schuhe vor die Tür stellen.«
»Am 5. Dezember tut man das auch in Frankfurt. Jedenfalls, wenn man noch nicht dahintergekommen ist, dass das Leben zum großen Teil aus Betrug besteht. In der Nacht vom 5. auf den 6. kommt der Nikolaus zu braven Kindern und bringt ihnen Apfel, Nuss und Mandelkern. Überflüssig zu bemerken, dass er zu mir natürlich nie kam.«
»Warum denn nicht und weshalb
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