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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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uns beiden das Lied vom Zitherspieler nicht mehr aus dem Kopf. Nun haben wir sozusagen eine Erkennungsmelodie.
    Das Schiff, das ich im Auge habe, geht in der dritten Februarwoche ab. Wie man mir sagte, ist es kein Problem, die Schiffskarte einzutauschen – falls ich mich innerhalb der nächsten zehn Tage entscheide. Ich lasse Euch jedenfalls sofort wissen, wenn sich die Dinge konkretisiert haben. Nur musst Du, lieber Vater, ganz ehrlich sagen, ob es Dir nicht zu viel wird, meine Arbeit die ganze Zeit mitzumachen. Wenn Du mir ein Telegramm schickst und mir die sofortige Rückkehr befiehlst, habe ich alles Verständnis der Welt und mache mich umgehend auf den Weg. Drückt Rosel, Pablo und die kleinen Bengel von mir. Ob sie ihren Onkel noch erkennen, wenn sie ihn wiedersehen? Er hat sich schließlich nicht nur auf eine Reise zwischen zwei Welten begeben, sondern in eine Lebenssituation, die ihn jeden Tag aufs Neue betäubt.
    Euch beiden schicke ich meine ganze Sohnesliebe. Erst hier – ist es die alte Heimat, oder ist es die Fremde? – ist mir im vollen Umfang aufgegangen, was Ihr bei der Flucht aus Deutschland im Jahre 1938 für mich und Rosel getan habt. Das lässt sich wahrhaftig nicht mit so einem Allerweltswort wie Elternliebe ausdrücken.
    Euer dankbarer Sohn Hans
    Frankfurt/M, den 3. Dezember
    Meine geliebte Mama, verehrte Hellseherin,
    Am Samstag traf Dein wunderbarer Brief hier ein, und Du sollst keinen Moment länger als nötig auf Antwort warten müssen. Am liebsten würde ich telegrafieren, aber, soviel ich weiß, haben selbst Millionäre nicht die Angewohnheit, ihre Briefe per Telegramm zu schicken. Mutter, ich zieh den Hut vor Dir. Du hörst nicht nur das Gras wachsen und was die Vögel von den Dächern zwitschern, Du bist wieder mal besser im Bild über mich, als ich es selbst je sein werde. Ich bin tatsächlich verliebt. Über beide Ohren, sieben Tage in der Woche und von früh bis spät. Und das habe ich nicht in Heidelberg am Neckarstrand in einer lauen Sommernacht entdeckt, sondern an einem verregneten Abend im Herbst. In der Frankfurter Rothschildallee.
    Wie bist du bloß dahintergekommen? Ich bin immer noch der Meinung, ich hätte mit keinem Wort auch nur angedeutet, wie es in mir aussieht. Kann ein Mann denn noch nicht einmal die Augenfarbe einer Frau erwähnen oder dass diese Frau genau den Humor hat, den er an Menschen schätzt, und dass er mit ihr in der Oper war, ohne dass seine Mutter hellhörig wird und genau den richtigen Schluss zieht? Was hat sich Gott bloß dabei gedacht, als er die jiddische Mamme mit mehr Antennen ausstattete, als ein Tausendfüßler Beine hat? Für mich begann das alte Lied, das wohl ewig neu bleiben wird, bereits an Erew Rosch haschanah. Da ging Fanny mit einer hochgeschlossenen weißen Bluse aus dem Zimmer und kam mit einer roten zurück, die im wahrsten Sinne des Wortes tief blicken ließ.
    Seitdem versuche ich täglich, einen kühlen Kopf zu bewahren, mein Herz im Zaum zu halten und mich nicht vor mir selbst zum Narren zu machen. Ich habe mir zigmal vorgerechnet, dass zwischen Fanny Feuereisen und Juan Arbol siebzehn Jahre und ein Weltmeer liegen, doch jedes Mal, wenn ich vor dem Haus Nummer 9 stehe und in den ersten Stock schaue, trommelt mein Herz, in meinen Beinen wabert Pudding, und ich spüre, dass ich einen Magen habe. Und dann komme ich auf tausend Gedanken, auf die ein Mann nicht kommen darf, wenn er zufrieden bleiben und gut schlafen will. Will ich denn immer nur zufrieden sein und gut schlafen? Von der Liebe träumen will ich – wie in der Zeit, als ich noch nicht wusste, welch hinterhältiger Bursche Amor ist, und dass es ihm egal ist, wohin er seine Pfeile schießt und wen er trifft.
    Noch traue ich mich nicht, mit Fanny von Liebe zu sprechen, ich bringe es weder fertig, ihr zu gestehen, was mit mir geschehen ist, noch schaffe ich es, mir einzugestehen, dass mit dieser Liebe der Schmerz in mein Leben gekommen ist. Jetzt erst weiß ich, was unser Deutschlehrer sich gedacht hat, als er uns in der Unterprima einen Hausaufsatz über das Goethewort »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust« schreiben ließ. Ausgerechnet jetzt will sich die eine von der anderen trennen.
    Fanny ist kein Mädchen wie alle anderen. Sie hat nie an Märchen glauben dürfen, sie hat von keinem Prinzen geträumt, mit dem sie auf einem Schimmel ins ewige Glück reitet. Sie hat das Wort Glück noch nicht einmal gekannt. Man hat sie mit dem Judenstern auf dem Mantel gebrandmarkt.

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