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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Menschen (oft Ehepaare und ganze Familien) gibt, die 1941 Selbstmord begangen haben, als sie ihre Deportationsbefehle erhielten.
    Bei meinem Besuch war die Praxis von Dr. Goldschmidt brechend voll. Als hätte man in Deutschland den jüdischen Ärzten nie ein Haar gekrümmt und nur darauf gewartet, wieder von ihnen behandelt zu werden. Goldschmidt war äußerst interessiert, als er hörte, dass ich aus Montevideo bin, obwohl er im ersten Moment Uruguay mit Chile verwechselt hat. Meinen Ischiasanfall, der hier so schlimm war wie selten, hat er so schnell wegbekommen wie zu Hause keiner und schon gar nicht der schlaue Doktor mit der öligen Stimme, der mir bei meinem letzten Besuch die Spezialdecke und seine selbst gedrehten Pillen andrehen wollte.
    Wo ist eigentlich zu Hause? Das frage ich mich täglich, meistens dann, wenn eine Erinnerung oder Bilder auftauchen, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht habe. Eine Rundfunkzeitschrift mit dem schönen Titel »Hör zu« hat auf ihrer Titelseite gerade das Bild eines Igels mit Stachelkopf und zerrissener Hose herausgebracht. Ich könnte schwören, ich hatte als Kind genauso einen putzigen Kerl aus Plüsch. Der von »Hör zu« heißt Mecki, ich glaube, meiner hieß Micki. Erbitte Aufklärung im nächsten Brief, Mama. Solche Dinge werden plötzlich so wichtig, dass sie einem den Schlaf rauben. Ich habe ohnehin den ganzen Tag damit zu tun, mich mit Dingen zu quälen, die in der Rubrik »Vorbei und Vergessen« abgelegt waren.
    Wahrscheinlich grübelt ihr bereits, wie ich einen so langen Brief schreiben kann, ohne dass mir der Arm abfällt. Oder ob ich im hohen Alter von fünfunddreißig Jahren einen Berufswechsel vom Kaufmann zum Schriftsteller anstrebe. Tatsächlich schreibe ich portionsweise und bin schon den dritten Tag mit diesem Brief zugange. Ich weiß, wie sehnsüchtig Ihr auf Post wartet, aber mir fällt immer etwas Neues ein, was ich Euch unbedingt erzählen muss. Wie das eben einem Mann ergeht, der in seine eigene Vergangenheit reist und das Bedürfnis hat, seine Eltern in sein Herz schauen zu lassen. Ausgerechnet ich habe immer behauptet, ich hätte keine Erinnerungen an Deutschland und wäre froh darum. Jetzt ist mir klar, dass ich das angeblich Vergessene nur aus meinem Kopf verdrängt hatte, nicht jedoch aus meinem Herzen. Ist das gut oder schlecht, oder ist dies das allgemeine Leiden der Juden, die zwar den Mördern entkommen sind, aber nicht ihrer Vergangenheit?
    Leider habe ich noch etwas begriffen: So fest, wie ich immer denke und bei unseren Bekannten und den Freunden behaupte, sind meine Wurzeln in Montevideo wohl doch nicht. Würde ich sonst, wenn ich im Zimmer der Witwe Schulte in der Eppsteiner Straße den weißen Fleck an der Wand anstarre (bestimmt hing dort früher ein Hitler-Bild, und sie findet keins mehr, das in den Rahmen passt), darüber grübeln, ob mir Hans Baum nähersteht und sympathischer ist als Juan Arbol? Señior Arbol hat ja eine Zeitlang sogar probiert, seine Muttersprache zu vergessen, und ist auf die hirnrissige Idee gekommen, eine Señorita namens Inocenta zu heiraten, die, wie wir ja alle heute wissen, so unschuldig nun auch nicht war.
    Die Sternbergs und Fritz waren sehr fasziniert, als ich ihnen erklärte, dass ich in der Emigration einfach meinen Namen übersetzt habe und dass das spanische Wort Arbol Baum heißt. Ich hoffe, Ihr werdet wenigstens ein kleines bisschen fasziniert sein, wenn Ihr von meinem Erfolg als Import-Export-Kaufmann hört. Als Fritz von seiner Tochter erfuhr, dass ich mit dreißig linken Stoffhandschuhen in allen Farben des Regenbogens durch die Welt reise, hat er mich an einen seiner Mandanten verwiesen, der schon wieder zwei Textilgeschäfte hat. Der heißt ausgerechnet Göring, ist jedoch besonders sympathisch und hat sich für die Handschuhe, die ich für den guten Barewsky mit nach Deutschland genommen habe, sehr interessiert und will das Geschäft unbedingt machen. Jetzt muss ich nach meiner Rückkehr nur noch mit Barewsky einig werden, aber der wird ja so schnell nicht noch einmal jemanden finden, der von Montevideo nach Frankfurt reist. Schließlich will ich ja nur eine Provision und nicht seine Beteiligung an meinen Reisekosten.
    Der feine deutsche Mann, so kann man täglich beobachten, geht nicht ohne Hut auf die Straße, und auch seine Gattin mag nicht auf ihr Hütchen verzichten. Außerdem schwärmt sie für Handschuhe. Auch im Sommer und bei dreißig Grad, habe ich mir sagen lassen. Selbst Fanny,

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