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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Suppe traten bei Josepha Schluckbeschwerden ein, die sie allerdings nicht ängstigten; ihr war klar, dass ihr weniger die Suppe als ihre Erregung und die Erwartung, am nächsten Tag das Altersheim für immer zu verlassen, zu schaffen machten.
    Um nicht an ihrem letzten Abend mit der Gewohnheit von Jahren zu brechen und weil sie in Bezug auf unterbrochene Rituale ein wenig abergläubisch war, suchte sie nach dem Tischgebet und den paar Schritten in der Anlage, die ihr gewöhnlich so gut taten, dass sie neuen Lebensmut fand, den Gemeinschaftsraum auf. Dort war zwischen den Herren Walter, Weber und Meier II ein unangenehm lauter Streit über die Frage entstanden, wie das abendliche Programm zu gestalten sei. Obwohl Herr Walter kein Wort Englisch außer »fucking« und »Chesterfield« kannte und die Amerikaner verachtete, weil sie seiner Meinung nach im Ersten Weltkrieg vollkommen unbegründet und absolut unerwartet dem friedenswilligen deutschen Kaiser den Krieg erklärt hatten, hatte er den amerikanischen Soldatensender AFN hören wollen. Trotz seiner Vorbehalte gegen die amerikanischen Politiker und die amerikanische Lebensart und obwohl er den größten Teil seines Lebens Jazz als »dekadente Niggermusik« bezeichnet hatte, schwärmte Rudolf Walter für die Musiksendungen des AFN. Die Herren Weber und Meier II hatten sich hingegen auf die in der ganzen Stadt beliebte Sendung »Quiz zwischen London und Frankfurt« gefreut – in jeder Sendung traten zwei Zweierteams gegeneinander an, und immer wieder beeindruckten die klugen Köpfe aus London und die Meisterrater aus Frankfurt die Hörer mit Wissen, Witz und Spontaneität. »Man kann gleichzeitig mitraten, Daumen drücken und stolz auf Deutschland sein«, sagte Herr Weber, der in seinen besten Zeiten Volksschullehrer gewesen war und bei den Heimbewohnern als klug und gebildet galt, wenn auch als zu rechthaberisch.
    Kurz nach Josephas Erscheinen im Gemeinschaftsraum entschied die Heimleiterin den Streit auf ihre übliche Art. Sie nahm den Radioapparat, einen erstaunlich gut erhaltenen Volksempfänger, der auf einem kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers stand, an sich, brüllte mit ihrer angsteinflößenden Dompteurstimme »So jetzt habt ihr’s gehabt« und stürmte, das Radiogerät, auf dem ein Zettel mit den Worten »Anfassen streng verboten« klebte, wie einen Sportpokal über den Kopf haltend, aus dem Raum.
    Fünf Minuten später drückte Josepha die Türklinke von Zimmer 17 herunter. Sie teilte die zwischen Waschraum und Toilette gelegene kleine Stube mit einer Frau, von der sie nur Schlechtes dachte. Zum einen sprach die dreiundachtzigjährige Witwe Hermine Seefeld stets von ihrem »Gatten«, obgleich ihr Mann, wie ihr Josepha einmal vorwarf, »nur ein ganz einfacher Klempner ohne Meistertitel« gewesen war. Zudem stammte Witwe Seefeld aus Berlin, und Josepha konnte sich weder mit deren deutlicher Sprache abfinden noch mit den typisch Berliner Ausdrücken. Frau Seefeld lebte zwar seit fünfzig Jahren in Frankfurt, aber sie wusste immer noch nicht, dass auf Freitag der Samstag folgte und nicht der Sonnabend; Frikadellen nannte Frau Seefeld Buletten, den Senf Mostrich, Soleier hielt sie für eine Delikatesse und nicht, wie Josepha, für ein Armer-Leute-Essen. Butterbrote waren bei ihr Stullen, sie schwärmte von grünem Aal und warmem Gurkengemüse, und statt von Kreppeln sprach sie von Pfannkuchen. Häufig gebrauchte sie das Wort »Fisimatenten«, war jedoch außerstande, es verständlich zu erklären.
    Am meisten verachtete Josepha an Frau Seefeld allerdings, dass sie ihr ganzes Arbeitsleben lang Dienstmädchen in Häusern gewesen war, in denen es weder ein Zweitmädchen noch eine Köchin und noch nicht einmal eine Putzfrau gegeben hatte. »In solchen Häusern«, hatte ihr Josepha einmal vorgehalten, und das ausgerechnet am Heiligabend, als die meisten Heimbewohner zu Tränen neigten und noch unglücklicher waren als sonst, »hätte ich noch nicht einmal einen Eintopf angesetzt.«
    Dass Josepha seit ihrem ersten Tag im Altersheim die Heimleiterin verachtete und sich an ihrem letzten Abend in der Friedberger Anlage diesen Hass bewusst noch einmal ins Gedächtnis rufen wollte, hatte weder mit irgendwelchen innerdeutschen Sprachbarrieren noch mit Josephas ausgeprägtem Klassenbewusstsein zu tun. Bei der ersten Begegnung zwischen den beiden – es war im dritten Kriegsjahr gewesen und Josepha nach zwei Monaten wegen eines komplizierten Schlüsselbeinbruchs aus dem

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