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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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würde Erwin sie in die Rothschildallee holen. Bestimmt würde er schon in zwei Wochen kommen. Da war Channuka, und sie könnte Ora das rosa Puppenkleidchen persönlich übergeben, das sie für die Kleine aus dem aufgetrennten Schal der letzten Kleiderspende gehäkelt hatte. Warum auch hatte ihr das Satansweib eine rosa Wollmütze zugedacht? Was sollte denn eine achtzigjährige Frau mit einer rosa Mütze? Demnächst rückte die Braumann bestimmt mit Fausthandschuhen und Leibchen für die Strümpfe an. Die Braumann wusste, wie man alten Leuten den letzten Schneid abkaufte.
    Es tat gut, Ora auf dem Schoß zu haben. Das war Eintauchen in die Zeit von Kinderlachen und Küchenliedern. Ach ja, die Lieder. Jahrelang hatte sie nicht mehr an die Lieder gedacht. »Sing uns was vor, Josepha. Du kannst am schönsten von allen singen.« Otto hatte für »Zu Frankfurt an der Brücken, da zapfen sie Wein und Bier« geschwärmt, Clara und Erwin wollten immer, dass sie »Mariechen saß weinend im Garten, im Grase lag schlummernd ihr Kind« sang, und Vicki, die es nie leid wurde, ihr Spiegelbild zu betrachten, hatte auf »Ein Mädchen, so schön wie ein Engel« bestanden.
    »Schaut traurig hinein in den See«, murmelte Josepha. Sie hatte jahrelang nicht mehr an das Lied gedacht und wunderte sich, dass sie den Text noch kannte. Wort für Wort. »Die Nixen da drunten im Wasser«, machte sie weiter, »die haben uns die Wiege bestellt.«
    »Jetzt langt es endgültig. Es ist nachts um drei, Frau Krause. Sind Sie denn besoffen, oder ist es Ihnen zu Kopf gestiegen, dass Sie jetzt wieder zu den feinen Leuten kommen und ihnen abends die Hausschuhe bringen dürfen? Fräulein Braumann hat mir verraten, dass es Juden sind. Ich frage mich, wo die herkommen. Nach allem, was man hört. Na ja, ich will nichts gesagt haben, gar nichts, aber beneiden tu ich Sie nicht. Nicht die Bohne. Ich weiß nämlich, wo ich hingehöre. Das habe ich immer gewusst.«
    »Morgen, nein, heute sag ich’s meinem Bub. Ich kann es nicht. Ich muss hierbleiben. Er wird verstehen. ›Wer dem Glück traut, hat auf Sand gebaut.‹«
    »Bei manchen Leuten fängt’s im Kopp an. Sie haben doch den ganzen Tag gepackt. Obwohl Sie nichts zu packen haben.«
    »Da werd ich’s eben auspacken. Den ganzen Tag.«
    Erwin kam wie angekündigt und keine Minute zu früh oder zu spät, um neun Uhr morgens. Er fuhr in einem cremefarbigen Chrysler vor, den ihm sein Chef geliehen hatte, und hupte dreimal, damit ein jeder hörte, dass ihm die Welt gehörte. Selbst auf Fotos hatte Josepha noch nie einen so großen Wagen gesehen – riesige Reifen mit silbernen Felgen, vier Türen, ein Außenspiegel, der groß genug war für das Badezimmer einer Königin, und Polster aus rotem Leder, die in der Wintersonne aussahen wie vor dem Krieg die Sessel in den vornehmen Kinos in der Innenstadt. Auf der Hutablage saß eine kleine Puppe in Offiziersuniform. In seiner Rechten hielt der Zelluloidsoldat eine amerikanische Fahne. Die Fahne faszinierte Josepha noch mehr als die vier Türen und die roten Polster; sie konnte nie die amerikanische Flagge sehen, ohne dass sie die Streifen und die Sterne zählte und sich vorstellte, wie schön es wäre, einen weiten blau-weiß-rot gestreiften Rock zu haben und dazu eine eng anliegende weiße Spitzenbluse.
    Erwins Kuss roch wie Sommerglück und frische Minze, denn während seiner Arbeitszeit und erst recht im Wagen seines Chefs pflegte er seine Zigaretten durch Kaugummi zu ersetzen. »Endlich, endlich«, sagte er. Seine Stimme war schwer vor Freude. »Du glaubst gar nicht, wie lange ich von diesem Tag geträumt habe.«
    Schon als ihr Herz zum ersten Mal stolperte, begriff Josepha, was geschehen war. Sie würde Erwin ihre Ängste und Bedenken nicht verständlich machen können. Wie ihrem Herzenssohn klarmachen, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte als die Rückkehr in das vertraute Haus, aber dass ihre Furcht zu groß war, denen eine Last zu werden, denen sie früher Stütze gewesen war? Mit Händen, die sie nicht ruhig halten konnte, drückte sie gegen den Kloß, der ihren Hals zuschnürte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    »Damit wir uns verstehen, Josepha«, sagte Erwin, der schon als ganz kleiner Bub ihre Gedanken hatte lesen können, »du hast genug für uns getan. Du kommst, weil du zur Familie gehörst, und nicht, weil wir jemanden suchen, der Erbsen pult, Kartoffeln schält und auf Leitern klettert. Und das, Mamsell Josepha Krause, ab heute wohnhaft in

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