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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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hatte: »Ich studiere doch. Ich studiere das Leben.«
    In diesem einmaligen Moment der Einverständlichkeit war der Heimbewohnerin Josepha Krause aus Zimmer 17, die an nichts mehr geglaubt hatte außer an die Willkür des Schicksals und an Gottes Unbarmherzigkeit, bewusst geworden, was Glück bedeutet. Ein Freudentaumel hatte ihren Körper zerrissen, Dankbarkeit ihr Herz. Nur noch einen einzigen Wunsch hatte sie gehabt: die Uhr auf immer anzuhalten.
    »Ich brauche nichts mehr«, murmelte Josepha. »Nur noch den Salat für den Papagei.«
    »Sie sprechen ja schon wieder im Schlaf«, klagte die Witwe Seefeld. »Herr im Himmel, es ist ein Uhr nachts, und ich habe noch kein Auge zugetan. Nicht mal meine Hühneraugen. Seitdem der feine Herr im grauen Anzug hier gewesen ist, der Ihnen den Kopp verdreht hat wie einem jungen Mädchen, das noch an die Liebe glaubt, machen Sie jede Nacht denselben Aufstand. Da muss ja der Hund in der Pfanne verrückt werden. Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Ich freue mir ein Loch in Bauch, dass das morgen aufhört.«
    »Wer weiß, Frau Seefeld, ob Sie da nicht auf dem Holzweg sind. ›Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.‹ Das hat schon meine Großmutter gesagt, und bisher hat alles gestimmt, was meine Großmutter gesagt hat. Sie hat mir auch beigebracht, dass zu viel Glück Unglück ist, als ich davon träumte, zu Weihnachten ein Steckkissen für meine Puppe und ein Schächtelchen Veilchenpastillen geschenkt zu bekommen. Vielleicht habe ich mich so daran gewöhnt, dass es jede Nacht hier zum Himmel stinkt, weil Sie nicht erlauben, dass ich das Fenster aufmache, dass ich doch nicht wegwill. Dann bleibt Ihnen die ungeliebte Frau Krause erhalten, und Sie können sich’s bequem machen und müssen sich nicht ein neues Opfer zum Schikanieren suchen.«
    Ob das, was die Menschen die »Macht der Gewohnheit« nannten, nicht tatsächlich im Moment der Entscheidung siegen würde? Vielleicht würde Josepha Krause, die ihre Träume nicht hatte aufgeben können, noch rechtzeitig dahinterkommen, dass es am besten für sie wäre, bis ans Ende ihrer Tage im Altersheim bei Graupensuppe und Hagebuttentee auszuharren. Durfte sich eine alte, verbrauchte Frau zurück ins Gestern wünschen, ohne dass das Schicksal ihr eine Narrenkappe überstülpte? War es nicht verrückt und anmaßend, sich zurück in die Rothschildallee zu sehnen, vom Rosenrondell zu träumen und vom Flieder im Mai? Außerdem vom Schnittlauch unter dem Balkon der Parterrewohnung.
    Josepha, die seit Jahren an keinem Herd hatte stehen dürfen, wollte in Betsys Küche wieder in den Töpfen rühren, aller Welt wollte sie beweisen, dass sie noch eine Frau mit Grips war und nicht eine Vogelscheuche in abgelegten Kleidern, die zu bestimmten Zeiten essen musste und abends spätestens um zehn im Bett zu liegen hatte. War es denn Sünde gewesen, mit bald achtzig noch Wünsche zu haben, war es eine Gotteslästerung, Ja zu sagen, statt den Kopf zu schütteln? Oder war es die übliche Torheit des Alters, an die Zukunft zu glauben, statt sich mit den Erinnerungen an die guten Jahre zu begnügen? Wie hatte sie, Josepha Krause, die sich vom Leben nichts vormachen ließ und die der Teufel auch in den schlimmsten Zeiten nicht in die falsche Richtung hatte führen können, wie hatte sie bloß zustimmen können, bei Anna zu leben? Allein der Gedanke, das Leben einer Frau zu belasten, die einen Kriegsversehrten zum Mann hatte und drei kleine Kinder versorgen musste, war verwerflich.
    Erwin würde verstehen. Enttäuscht, ja bitter enttäuscht würde ihr Bub sein, wenn sie ihm im allerletzten Moment erklärte, dass sie im Heim bleiben musste, weil sie sich nicht mehr in das freie Leben traute, aber Erwin würde ihr verzeihen. Verstehen und verzeihen. Er würde seine Enttäuschung nicht zeigen. So war er, ihr Bub, blitzgescheit und einer, der andere nicht beschämte. Er war wie sein Vater, er kannte das Leben, und er kannte sich mit den Menschen aus. Ein Herz aus Gold hatte er außerdem, er ließ die nicht fallen, die er liebte. Auch wenn Josepha im Heim blieb, weil sie zu alt und nicht mehr mutig genug zum Aufbruch und Neuanfang war, würde er sie so lange besuchen, bis sie ihn nicht mehr erkannte. Die alten Scherze würde der Schlingel machen, von den alten Zeiten würde er reden, von Tel Aviv erzählen und vom Roten Meer und von den Dingen flüstern, die niemand außer Josepha vertraut waren. Und zu den Feiertagen, den christlichen und den jüdischen,

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