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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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reichte, einen verfilzten lila Pullover und die kleine Brosche aus gelb gewordenem Elfenbein, die sie sonst nur ansteckte, wenn der Pfarrer ins Heim kam. Sie drückte die Puppe mit den honigfarbenen Ringellocken und der Rotkäppchenmütze an sich. »Mach Winkewinke, Gerda«, sagte Frau Mundig, »Unsere Omi fährt ganz weit weg. Sei ein artiges Mädchen. Mach einen Knicks und sag ihr Lebwohl. Sonst bringt dir das Christkindchen nur Salz und Rüben.«
    Josepha, die Autotür schon in der Hand und mit ihren Gedanken bereits im Paradies der Freien, lief die paar Schritte zur Treppe zurück. Obwohl sie sechs Jahre lang kein einziges Mal Frau Mundig nahe genug gekommen war, um die Farbe ihrer Augen zu erkennen, lief sie auf die einfältige Greisin zu, als hätte sie vergessen, sich von ihrer Freundin zu verabschieden. Es schauderte ihr vor Frau Mundigs wachsgelber Haut und ihren schwarzen Zahnstümpfen, dennoch berührte sie die faltige Wange der Alten. »Danke«, sagte Josepha, »das war ganz lieb von Ihnen, Frau Mundig. Das werde ich mir merken.« Sie streichelte auch die Puppe. »Wiedersehen, Gerda, pass gut auf deine Mami auf. Sie braucht dich.«
    »Die ist doch nur eine Puppe«, wunderte sich Frau Mundig. Erst kicherte sie mädchenhaft belustigt, dann schüttelte sie den Kopf so heftig, dass ihr Haar für den Moment, in dem sich die Dunkelheit erhellte, wie eine Fahne um ihr Gesicht flatterte. »Haben Sie denn nicht gewusst, dass Gerda nur eine Puppe ist?«
    »Nein«, erwiderte Josepha, »das hat sie mir nie gesagt.«
    »Gerda spricht nicht mit jedem«, erklärte Frau Mundig. »Sie weiß Bescheid.«
    »Du bist schon eine«, sagte Erwin im Auto.
    »Eine was?«
    »Ja, glaubst du denn, ich spreche mit jedem? Ich weiß Bescheid.«
    An der Tür vom Haus Rothschildallee 9 hing ein mit roten Kerzen, Rotkehlchen und Tannenzweigen bemaltes Pappschild, auf dem in krakeliger Kinderschrift »Herzlich willkommen zu Hause« stand. Auf dem Fensterbrett im Hausflur saß ein kleiner, einäugiger Plüschaffe mit einer babyblauen Schleife um den Hals, neben ihm lagen ein gelber Kinderschal, drei Glasmurmeln und ein einzelner Fausthandschuh.
    »Kinder«, flüsterte Josepha. »Ich habe ganz vergessen, wie es in einem Haus riecht, in dem Kinder sind.«
    »Hauptsache, du hast nicht vergessen, wie es klingt«, sagte Erwin, »sonst bekommst du gleich den Schreck deines Lebens.«
    »Den Schreck meines Lebens habe ich lange hinter mir, mein Junge.«
    Sie musste tief einatmen, ehe sie es wagte, ihrer Nase zu trauen. Im Treppenhaus duftete es nach Zimt, Anis und Vanille, nach gebrannten Mandeln und dem Lebkuchengewürz der Vorkriegsjahre. Es wurde in winzigen Tüten verkauft und war erst vor Kurzem wieder in den Kolonialwarengeschäften und in den Bäckereien aufgetaucht. Anna war am Backen – Butterplätzchen, Ochsenaugen mit ihrem selbst gekochten Johannisbeergelee, Makronen, Vanillehörnchen und oberhessischen Gewürzkuchen, von dem ihr Vater immer gesagt hatte, sie könne ihn noch besser backen als seine verstorbene Mutter. »Meine selige Mutter«, hatte er immer gesagt, wenn er von seiner Kindheit in Schotten erzählte, und am Anfang hatte sich Anna, womit sie Clara und Vicky noch jahrelang neckten, Johann Isidors Mutter als einen Engel vor einem himmlischen Herd vorgestellt.
    Die Meisterbäckerin hatte eine rotweiß karierte Trägerschürze an und genauso viel Mehl im Haar, wie nötig war, um Erinnerungen zu erwecken, wenn sie ihrem Spiegelbild begegnete. Ihre tränenfeuchten Augen zeigten an, wie viel ihr Josepha bedeutete. Jedoch fiel ihr von den wunderbar herzlichen Begrüßungsworten, die sie in der Nacht mit Hans besprochen hatte, schon das erste nicht mehr ein. »Die Anisplätzchen und die Makronen mache ich immer noch nach deinen alten Rezepten, Josepha«, schluckte sie.
    »Für Makronen darfst du aber den Herd nicht zu heiß werden lassen. Das hab ich euch Mädels immer wieder predigen müssen.«
    »Das tut sie längst nicht mehr«, rief Betsy herunter. »Zu viel Hitze beim Backen hat sie sich ganz schnell abgewöhnt, als es nichts mehr gab, um den Herd zu heizen.«
    Sie stand, ein Bild von Erwartung und Zufriedenheit, auf der Treppe zwischen ihrer Wohnung und dem Parterre. Ora, der immer Furchtbares schwante, wenn Außergewöhnliches geschah, klammerte sich an ihren Rock. Sanft löste Betsy die Finger der empfindlichen Prinzessin. »Fang bloß nicht an zu heulen, Ora. Nur dumme Kinder und alte Weiber dürfen Angst haben«, belehrte

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