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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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der Rothschildallee 9, sage ich nur ein einziges Mal und dann nie wieder. Nie.«
    »Aber ich wollte doch …«, stammelte sie. Sie spürte, dass sich Fröhlichkeit in ihren Körper drängte und dann die Leichtigkeit, die Flügel wachsen lässt. Aus zwei winzigen Tränen wurde ein Strom. »Ich wollte …«, versuchte sie es wieder.
    »Du wolltest dich beeilen, meine Liebe. Sonst bekommt der kleine Erwin nur trocken Brot zu Mittag und muss in der Ecke stehen. Anna hat einen Kuchen gebacken, und wenn wir uns nicht sputen, frisst ihn der Teufel. Hans hat seinen freien Tag und tut gerade den letzten Pinselstrich an deinem Zimmer. Er kann es nicht abwarten zu erfahren, was du sagst. Fräulein Sophie und Lena haben auf einem Trümmergrundstück, wo sie nicht hindürfen, Vogelbeeren für dich geklaut und etwas, was wie Forsythien aussieht, damit du ein Empfangsbouquet wie eine Märchenbraut bekommst. Was meine Mutter und meine Schwester im Sinn haben, darf ich nicht verraten, sonst werde ich guillotiniert.«
    »Du böser, garstiger, unausstehlicher Bub«, schimpfte Josepha. »Gebrauchst Worte, die eine alte Frau nicht versteht. Schämst du dich denn nicht?«
    Auf die Worte, die sie in der Nacht und zuletzt in der Morgendämmerung eingeübt hatte, wie als kleines Mädchen das Vaterunser, von dem sie sich die zweite Hälfte nie hatte merken können, wartete sie vergebens. Die Bedenken, Klarstellungen und Erklärungen, der Zweifel und die Kleinmütigkeit waren nicht mehr da. Geflohen waren sie wie ein Gassenjunge, der auf die Haustürklingeln von fremden Leuten drückt und wegläuft, sobald die ersten Fenster aufgerissen werden. Die schwarzen Wolken, die Unsicherheit und die Angst, die auch die Unerschrockenen lähmte, hatten sich in einer Sonne des Glücks aufgelöst, und diese Glückssonne brannte in einem Herzen, von dem Josepha, klein geworden auf Zimmer 17, geglaubt hatte, es wäre nicht mehr imstande, Freude zu ertragen.
    Fräulein Braumann, grau im Gesicht, in einem abgetragenen grauen Wintermantel mit einem kleinen Kragen aus grauem Kanin und mit einem zum Turban gebundenen feuerwehrroten Kopftuch, das sie wie eine Rachefrau im Kindertheater aussehen ließ, stand vor dem Haus. In der Linken hielt sie das schwarze Schulheft, in das sie die Wünsche und Kümmernisse der alten Leute einzutragen pflegte, auf die sie nie wieder zurückkam; in der rechten Manteltasche steckte der Bleistift, den sie hütete wie der Erzengel sein Flammenschwert.
    Josepha hatte nicht vorgehabt, sich von irgendeinem zu verabschieden. Sie hatte allerdings auch nicht damit gerechnet, Fräulein Braumann, die sich sonst nur in den dringendsten Notfällen vor elf Uhr morgens zeigte, gerade heute zu sehen. Doch ausgerechnet das verachtete, gefürchtete, gehasste Fräulein Braumann brachte Josepha zu Bewusstsein, wie gründlich sie sich getäuscht hatte – sie war im Altersheim nicht schwach geworden, auch nicht feige und schon gar nicht ängstlich. Ihre alte Kampfeslust, ihre Loyalität gegenüber denen, die ihr Familie waren, hatten die Zeit von Verzweiflung und Leid überdauert.
    »Ich gehe zu meine Judeleut«, sagte Josepha. Tausend Eide hätte sie geschworen, dass sie ihre Stimme nicht erhoben, keinen Muskel gezuckt hatte, doch später im Auto sagte Erwin, sie hätte gegrinst. »Wie ein Honigkuchenpferd hast du gegrinst. Und trompetet hast du wie ein Elefant. Du warst ja immer frech wie Oskar. Selbst die Nazis hatten Angst vor dir.«
    Fräulein Braumann hatte ein ebenso gut funktionierendes Gedächtnis wie die, die im letztmöglichen Moment mit ihr abrechnen durfte. »Ich hab’s nicht schlecht gemeint«, sagte sie, »bestimmt nicht. Das können Sie mir glauben, Fräulein Krause. Sie kennen mich doch. Manchmal rutscht auch mir etwas raus, was ich nicht sagen will.«
    »Keiner in Deutschland hat es schlecht gemeint«, wusste Erwin, der die Geschichte von Fräulein Braumanns Provokation an Josephas erstem Tag im Heim in allen Einzelheiten kannte.
    »Den meisten von uns rutscht immerzu etwas raus, was wir nicht wollen. Das Rausrutschen ist die neudeutsche Krankheit, Fräulein Braumann. Deswegen gebe ich auch immer ganz besonders acht, dass mir nichts aus der Hose rutscht. Komm, Josepha. Es ist höchste Zeit, dass du nach Hause kommst. Da rutscht keinem was raus.«
    Auf der letzten Stufe der Treppe, die in die Anlage führte, stand Frau Mundig, das schüttere Haar weiß und wirr. Sie trug einen Trachtenrock aus grünem Loden, der bis zu ihren Füßen

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