Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Schweiß lief ihm von der Stirn, sein Hemd war nass und der Hals so trocken, wie er sich die Kalahari vorstellte. Und doch war David zufrieden und so entspannt, als wäre er ein Einzelkind, dem Vater und Mutter jeden Wunsch erfüllten und ihm nie das große Pfadfindertreffen am Fuße des Tafelbergs verboten, weil er dort weder die Speisegesetze noch die Sabbatruhe einhalten konnte. Unter seinen Aufsatz schrieb er, obwohl er erst seit einem halben Jahr Latein lernte, und das freiwillig, das schöne Wort »Finis«, das ihm schon lange imponierte und das sein Papagei sich zu lernen weigerte.
Obwohl er hörte, dass seine Mutter ihn rief und dass der Vater, der ja als Hotelmanager auch sonntags arbeiten musste und erst am späten Nachmittag nach Hause kam, dreimal laut hupte, blieb er im Garten sitzen, bis die Sonne sich so rot wie seine Lieblingsrosen färbte und die Blüten vom Flamboyant dunkel wurden. Sie erzählten Geschichten, die nur er, der berühmte David Zuckerman aus Klasse Acht, hören konnte. Im Teich hinter den Obstbäumen quakte ein Frosch. David stellte sich vor, der Frosch wäre sein Lehrer und forderte von jedem Schüler, der eine gute Note im Aufsatz wollte, eine goldene Kugel.
»Der Schüler Zuckerman ist leicht verrückt, aber total ungefährlich«, sagte er zu dem vorbeispazierenden Kronenkranichpaar. »Ihr braucht keine Angst zu haben.«
Zum Abendessen gab es kaltes Huhn mit Kartoffelsalat. Im Gegensatz zu ihren Söhnen schwärmten die Eltern für Kartoffelsalat. Jedes Mal, wenn die Glasschüssel mit den klein geschnittenen Kartoffeln auf dem Tisch stand, die unter einer quittengelben Mayonnaise begraben lagen, verdrehten sie nach Davids Beobachtungen die Augen und erzählten einander Geschichten aus ihren Kindertagen in Deutschland. Dass David so wenig aß und sein Vater ihn deshalb rügte, wurde von seiner Mutter entschuldigt, obwohl sie sonst wenig Verständnis für Appetitlosigkeit hatte. »Er hat den ganzen Tag wie ein Kuli geschuftet. Der arme Junge hat überhaupt nichts von seinem Sonntag gehabt.«
»Es steht geschrieben, dass der Mensch sechs Tage arbeiten soll«, sagte der Vater, »Sabbat war gestern. Der Allmächtige hat auch sechs Tage in der Woche gearbeitet. Ich muss das auch. Sklaven werden erst im siebten Jahr freigelassen, und selbst Äcker und Weinberge müssen sechs Jahre tragen, ehe sie brachliegen dürfen.«
David seufzte, allerdings, ohne dass es der hörte, dem es galt. Wenn sein Vater auf biblischen Pfaden wanderte, war es schwer, ihm auf den Fersen zu bleiben. Hatte ein todmüder Junge nach einem anstrengenden Tag wenigstens nicht so viel Recht auf Schonung wie eine trächtige Kuh? »Du schläfst ja mit offenen Augen«, sagte der bibelkundige Vater.
»Überhaupt nicht«, wehrte sich David. »Ich weiß genau, was du gesagt hast. Du hast von Weinbergen gesprochen.« Sein mangelnder Appetit war ihm peinlich. Nicht als Erster um eine zweite Portion zu bitten schadete seinem Ruf als guter Esser. Er freute sich auch nur mäßig, als Ralfi, der viel gefeierte Nachwuchsrembrandt, direkt nach dem Tischgebet zu Bett geschickt wurde. Unmittelbar vor dem Nachtisch hatte ausgerechnet die Nanny gemeldet, dass er seiner Schwester Rachel mit grüner und roter Tinte einen fauchenden Drachen auf die Brust gemalt hatte.
»Willst du auch ins Bett, David?«, erkundigte sich die Mutter. »Du schaust deinen Bruder so sehnsüchtig an.«
Er verschluckte wieder einen Seufzer und überlegte, ob seine Mutter gemein wäre oder naiv. Trotzdem ließ er sie nicht so lange wie sonst um sein Aufsatzheft bitten. Er lächelte gar, als er das schwarze Heft aus seiner Schultasche zog, fügte allerdings hinzu: »Nicht, wenn ich dabei bin. Das macht mich verlegen.«
Ehe er aus dem Esszimmer ging, bekam David mit, dass sein Vater sagte: »Mit dem Sabbatical geht endlich alles klar. Jetzt müssen wir beten, dass es mit den Karten klappt.« Ihm fiel auf, dass sich seine Eltern in einer Art zuzwinkerten, die er als kindisch und unpassend für Leute fand, die schon so alt waren, dass sie sich nur dann an ihre eigene Kindheit erinnerten, wenn es Kartoffelsalat gab.
Als er im Bett lag, tränten seine Augen, ein sadistischer Teufel trommelte in seinem Kopf. Trotzdem war er noch fähig, sich mit dem Wunsch zu beschäftigen, der ihm stets den Sonntagabend vergoldete. Die Menschheit hatte endlich begriffen, dass David Zuckerman ein Genie war, das sämtliche Weltsprachen beherrschte, Atlantis finden würde und nur
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