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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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mit Daumen und Zeigefinger zu schnippen brauchte, um die Welt zurück in das Paradies zu verwandeln, in dem die Tiere einander nicht fraßen, gezuckerte Feigen vom Himmel fielen und Eltern ihren Kindern nicht widersprachen.
    Seiner Erschöpfung wegen unterließ es David, Gott für die Segnungen des Tages zu danken und um Schutz für die nächste Woche zu erbitten. Auch versäumte er, seine verschwundene Schulkrawatte zu suchen und den Wecker zu stellen. Er wurde erst wach, als seine Brüder um das Badezimmer kämpften. Die Krawatte fand er noch später – um den Bauch von Rachels Lieblingspuppe gewickelt. So kam es, dass David, immer pünktlich und so ordentlich angezogen, dass seine Mutter sich jeden Tag aufs Neue in ihren Erstgeborenen verliebte, verspätet zum Frühstück erschien. Es waren keine Eier mehr da, seine Brüder hatten den Orangensaft ausgetrunken, der Vater war im Gehen. Er hatte sein umdüstertes Morgengesicht und gab Baby erst einen Abschiedskuss, als seine Frau ihm das Kind vor den Mund hielt und auffordernd schmatzte. Seine übrigen Kinder starrte Leon Zuckerman an, als würde er sie nicht kennen. Seinem Stammhalter war klar, dass dies nicht die Gelegenheit war, nach dem Wort »Sabbatical« zu fragen.
    Hätte ihm seine Mutter ihre Briefe lesen lassen, was sie nie tat und immer mit der von David als rätselhaft empfundenen Bemerkung ablehnte: »Auch eine Mutter braucht ein Stück eigenes Leben«, hätte er die Zukunft läuten hören. Zwanzig Tage nachdem er seinen Aufsatz abgegeben hatte, saß seine Mutter abermals an dem Glastisch im Garten; in der Hand hatte sie den teuren Füllfederhalter, den ihr keines ihrer Kinder gönnte. Es war wieder Sonntag, der Pfau schlug ein Rad, das so groß war wie das einer Kutsche, abermals verliebte sich ein gelber Schmetterling in die üppigste Protea auf dem Gelände, Ralfi boxte einen unsichtbaren Feind nieder, und Aby kickte einen Ball ins Gemüsebeet und behauptete, Rachel hätte ihn geschubst. David mühte sich mit einem zerfledderten Buch ab. Es hieß »Tausend Worte Deutsch«; sein Vater hatte es bei dem Buchhändler gefunden, der für seine Zivilcourage bekannt war. Er stellte deutsche Bücher ins Schaufenster und verkaufte neuerdings den »Stern« und den »Spiegel«.
    »Geliebte Mutter«, schrieb Alice, »wenn ich mit dem Schreiben warte, bis sich meine Erregung gelegt hat und ich wieder normal bin, kommt dieser Brief erst in Jahren bei dir an. So Gott will, werden wir am 1. April (kein Aprilscherz!) mit der ›Edinburgh Castle‹ in Hamburg einlaufen. Leon wurde endlich sein ›Sabbatical‹ bewilligt. Wir sind überglücklich und reden von nichts anderem mehr. Normalerweise heißt Sabbatical ein Jahr Urlaub, doch da macht die Hotelbranche nicht mit. Aber fünf Monate kann Leon doch freimachen. Er hat ja in all den Jahren nie länger als zehn Tage Urlaub gemacht. Gesegnet sei der Sabbat! Und die, die das Sabbatical erfunden haben. Ich habe unsere Reise nach Frankfurt nie mehr erwähnt, nachdem meine letzte Schwangerschaft uns in letzter Minute einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Und Leon war ja ohnehin nicht gleichermaßen entschlossen wie ich, die Kontinente zu wechseln, obwohl er so gute Beziehungen hat, dass uns die Reise mit fünf Kindern längst nicht so viel kostet wie andere. Nun spürt er aber, dass ich nach Hause muss. Wenigstens zu Besuch. Ich habe Dich, geliebte Mutter, Erwin, Clara, Claudette und Anna seit dreizehn Jahren nicht gesehen. Ich kann mich kaum an Fanny erinnern und auch nicht so richtig an Fritz. Wenn ich mir vorstelle, dass meine Kinder bei Josepha in der Küche sitzen, wie ich es als Kind getan habe, dann platze ich heute schon vor Freude. Als Du schriebst, Josepha sei wieder da, habe ich drei Tage nur noch heulen können.
    Im Moment der ersten Freude kam mir der Gedanke, uns gar nicht anzukündigen, sondern einfach vor der Tür zu stehen – natürlich am fünfzigsten Geburtstag von Clara und Erwin. Aber mir wurde doch sofort klar, dass das die albernste Idee meines Lebens gewesen wäre. Vier Kinder und ein Baby sind ja, wenn man sie nicht erwartet, noch mehr Schock als Zumutung. Du kannst Dir ja überlegen, ob Du den Geburtstagskindern die drohende Invasion der Zuckermans so lange verschweigst, wie es geht.
    Auch wenn mein Herz überquillt, muss ich mich heute kurz fassen. Der Brief soll dich so schnell wie möglich erreichen. Als Danke für einen großen Gefallen, den Leon im vorigen Jahr dem Frankfurter Hof

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