Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
erwiesen hat, ist es ihm gelungen, dem Hotel zwei Zimmer zu Bedingungen abzuluchsen, die wir uns leisten können. Dort werden wir uns und die beiden Mädchen unterbringen, eventuell auch Ralfi. David will unbedingt bei Dir wohnen, und Aby findet alles gut, was man ihm vorschlägt. Die Zweitgeborenen sind ja immer die einfachsten – wenn sie nicht als Zwillinge auf die Welt kommen und Clara und Erwin heißen. Und um Himmels willen schreib mir endlich, weshalb die kleine Ora wie ein Mischlingskind aussieht. Das ist keine Neugierde. Ich muss die Kinder darauf vorbereiten, dass das Kind dunkelhäutig ist. In diesem Land der Apartheid sind nämlich auch die Kinder der Meinung, dass nur der weiße Mensch gilt. Mir gibt es jedes Mal einen Stich, wenn ich die Schilder ›Zutritt für Hunde und Nichtweiße verboten‹ sehe.
Als David von der Reise erfuhr, hat er vor Aufregung eine Woche lang nichts gegessen. Wir werden sein Aufsatzheft mitbringen, dann begreifst du am besten, weshalb. Er ist der festen Überzeugung, dass sich seine Eltern wegen seines – wirklich bemerkenswerten – Aufsatzes entschlossen haben, endlich nach Deutschland zu fahren. Er kommt gar nicht auf die Idee, dass der Gedanke an unser Wiedersehen seit Kriegsende in uns rumort. Wir lassen ihm den Glauben an seinen Aufsatz. Schon als Beweis, dass es doch so was wie eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt. Er war nämlich sehr niedergeschlagen, als er nicht die erhoffte Note für den Aufsatz bekam und sein Lehrer an den Schluss der Arbeit schrieb ›Zu weitschweifig. Deine Familiengeschichte dürfte den Leser nicht interessieren‹. Dreimal darfst du raten, was wohl in dem Herrn vorgeht. Wir denken nur noch an Euch und die Reise. Zu Leons großer Freude habe ich bereits das Gebet gelernt, das eine Frau auf Reisen sagt, und er schafft es endlich, mit den Kindern über seine Jugend in Frankfurt und über den Tod seiner Mutter und Schwester zu sprechen.
David, das Kind, das mir am nächsten steht (möge es keiner je erfahren), rührt uns beide zu Tränen. Er lernt mit einem Wörterbuch Deutsch und erinnert mich an die Zeit meiner Auswanderung, als ich englische Vokabeln vor dem Spiegel übte. Gestern sagte er: ›Guten Tag, Oma, guten Tag, Onkel, guten Tag, Tannzapfen.‹ Er war in seinem Eifer in die falsche Zeile geraten. Ist das nun traurig oder lustig?
Nach dreizehn Jahren habe ich leider vergessen, wie in Deutschland das Wetter im April ist. Braucht man noch einen Wintermantel? Gibt es schon wieder genug Milch und Eier, oder soll ich Milchpulver und Eipulver einpacken? Was für alberne Fragen eine Mutter zu klären hat! Viel wichtiger ist doch, ob meine Mutter mich noch erkennt. Nach dreizehn Jahren, in denen bei Dir und bei mir ein Teil des Lebens starb. Erschrick nicht, Mutter, wenn Du mich siehst. Ich weiß noch, wie Du einmal gesagt hast: ›Leben zehrt.‹ Eine Auswanderung und fünf Kinder später weiß ich, was Du gemeint hat.
Wenn Gott unsere Gebete weiter erhört, schreibe ich Dir den nächsten Brief vom Schiff. Es drückt dich so, wie sie dich noch nie gedrückt hat,
Deine Tochter Alice.«
11
Ein Mann, ein Entschluss
April 1950
David, Aby und Ralfi machten sich unmittelbar nach ihrer Ankunft in Frankfurt daran, den Seltsamkeiten einer Welt auf den Grund zu gehen, in denen die Menschen anders aussahen, anders sprachen und sich vor allem anders verhielten als zu Hause. »Ich habe einen Neger in amerikanischer Uniform gesehen, der eine weiße Frau geküsst hat«, erzählte David seiner Mutter noch am Ankunftstag. »Keiner hat sich umgedreht.« Auch Aby fiel auf, dass es in Deutschland die Apartheid nicht gab. »Sogar die Männer, die die Straße kehren, sind weiß«, stellte er fest. »Und viele Kinder sind noch dunkler als Ora.«
Annas Kinder, Sophie, Erwin und Lena, die nun adoptiert war, gaben sich enorme Mühe, die drei Jungen gut zu unterhalten. Sie führten sie zu der Schaukel und der Wippe auf dem Spielplatz in der Günthersburgallee und am nächsten Tag zum Kinderkarussell in der Rendeler Straße, das noch mit der Hand gezogen werden musste und für das Sophie die Passanten um Groschen anbettelte, weil Ralfi so gern fahren wollte. »Er kommt aus Afrika und ist noch nie Karussell gefahren«, klärte sie die barmherzigen Spender auf. Zu David sagte sie »Chesterfield« und »Cookie« – die einzigen englischen Worte, die sie kannte. Er sagte das Gleiche zu Sophie, und am Abend vertraute die ihrer Mutter an: »Er ist der netteste
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