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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Klasse in einer halben Stunde zu schreiben wäre. Noch dazu ein so schwieriger, mit dem der Schüler David Zuckerman unbedingt beweisen wollte, dass er zu Recht eine Klasse hatte überspringen dürfen. Seine Eltern waren zunächst nicht einverstanden gewesen, aber schließlich hatte David – mit Sams Hilfe, der den Zuckermans zugeredet hatte, und auch durch die Fürsprache seines damaligen Klassenlehrers – doch in die höhere Klasse gedurft. »Zu anstrengend für dich«, hatte seine besorgte Mutter noch geunkt, als die Würfel bereits gefallen waren. »Du bist dann der Jüngste in deiner Klasse, und das tut nicht gut. Ich weiß, was das bedeutet.« Von seinem Vater kam genau das, was David erwartet hatte. Es sei nicht klug, »Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wenn es nicht unbedingt sein muss. Das schürt nur Neid. Und was das bedeutet, weiß ich nur allzu gut. Leider«.
    Die meisten Reaktionen seiner Mutter waren spontan und unlogisch und deshalb auch nicht gut kalkulierbar. An die Ängste seines Vaters vor der Missgunst der Masse war David gewohnt, aber erst seit dem Bar-Mizwa-Unterricht bei Sam war er so klug geworden, dass er nicht mehr alles sagte, was ihm in den Sinn kam. Sein bester Freund Martin hielt es zu Hause ebenso. Auch Martins Eltern stammten aus Deutschland, und sie sprachen ebenso häufig wie die von David von schwierigen Zeiten und dem schweren Anfang in Südafrika. Auch Martin, der wie David zu den Besten der Klasse zählte und – im Gegensatz zu ihm – ein guter Cricketspieler war und sowohl zu den Pfadfinderlagern als auch zu den Klassenausflügen mit Übernachtung und Lagerfeuer auf dem Tafelberg mitdurfte, hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, von denen die nichtjüdischen Jungen in der Klasse und auch die Lehrer keinen Schimmer hatten. Jüdische Eltern platzten zwar vor Stolz, wenn ihre Kinder gute Zeugnisse nach Hause brachten, und protzten damit bei ihren sämtlichen jüdischen Bekannten und bei den Veranstaltungen in der Gemeinde, doch sie hatten immerzu Angst, die Engländer könnten ihren schlauen Kindern die Erfolge neiden. Selbst über die Reaktion der Buren machten sich Davids Eltern noch Gedanken, obwohl, wie David ihnen immer wieder vorhielt, »doch jeder weiß, dass die Buren die Juden sowieso nicht riechen können und ihre Kinder ohnehin nicht auf englische Schulen schicken«.
    Wenn David und Martin allein waren, das Leben analysierten und eine Welt entwarfen, in der alle Menschen die gleiche Hautfarbe, die gleiche Konfession und ein Auto hatten und der Schulbesuch freiwillig war, nannten sie das elterliche Verhalten »German Measles«. Sie kicherten dabei wie junge Mädchen, die von den Küssen erzählen, die sie noch gar nicht bekommen haben, denn »German Measles« war in Englisch die Bezeichnung für Röteln. Und David und Martin waren sich einig, dass sämtliche Eltern, die aus Deutschland kamen, nicht gesund waren. Alle hatten sie Angst, sie könnten es anderen Menschen nicht recht machen und würden, wenn es ihnen zu gut ging, Unzufriedenheit und Misstrauen erregen.
    Martins Eltern hatten ursprünglich Grünbaum geheißen, sie waren nach dem Krieg naturalisiert worden, nannten sich nun Green und tranken statt Kaffee nur noch Tee. Obgleich sie für Davids kritische Ohren einen fürchterlichen deutschen Akzent hatten, redeten sie mit ihren beiden Kindern nur Englisch, aßen Porridge zum Frühstück und, da der Haushalt nicht koscher war, Speck zu ihren Eiern. Die Greens genierten sich so sehr ihrer deutschen Wurzeln, als wären sie nicht aus Deutschland geflohen, sondern hätten für Hitler gekämpft.
    Die Bezeichnung »Chamäleon mit eingeklemmtem Schwanz« stammte von Davids Vater. Der hatte allerdings nicht gemerkt, dass sein Ältester im Zimmer war, als er sich über die gebratenen Speckeier der Familie Green ausließ, und musste seinen grinsenden Sohn beschwören, auf der Stelle und für immer zu vergessen, was sein frommer Vater »sich leistet, wenn er gegen das achte Gebot verstößt«. Obwohl es David immer viel Mühe kostete, einem neuen Lehrer seinen Namen zu buchstabieren, war er froh, dass er sich nicht an einen anglisierten Familiennamen zu gewöhnen brauchte. Wenn er seine Eltern mit denen von Martin verglich, war er auch glücklich, dass er sich weder für seinen Vater noch für die Mutter zu genieren brauchte.
    Die Eltern Zuckerman hatten so gut Englisch gelernt, dass sich keiner hinter ihrem Rücken an den Kopf fasste, sobald sie den Mund aufmachten,

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