Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Großeltern, und mir scheint, deine Großmutter ist eine ganz außergewöhnliche Frau. Weißt du, Verwandtschaft zu haben ist bei Juden, die aus Deutschland kommen, eine Gnade Gottes.«
»Ich hab noch viel mehr Verwandte in Deutschland«, ereiferte sich David. Seine Haut glühte. Er wirkte erleichtert. »Mein Onkel und meine Tante kamen aus Israel nach Frankfurt zurück. Dann gibt es noch Tante Claras Tochter Claudette, und die hat auch eine Tochter, Ora. Auf den Fotos sieht sie immer wie ein indisches Mädchen aus, aber mein Vater sagt, die haben nicht das richtige Material in Deutschland, um ihre Filme ordentlich zu entwickeln.«
»Wenn ich so einen Vater gehabt hätte wie du, wäre ich heute nicht ein unterbezahlter Lehrer bei der jüdischen Gemeinde, sondern Direktor der indischen Schule in Johannesburg.«
»Meine Cousine Fanny und ihr Vater wohnen auch bei meiner Großmutter. Die haben sich den ganzen Krieg vor den Deutschen verstecken müssen. Natürlich kenne ich sie nicht. Ich kenne keinen, der zu mir gehört, nur meine Eltern und meine Geschwister. Kannst du jetzt verstehen, dass ich die Jungen in meiner Klasse immer beneide, wenn sie von ihren Großmüttern und Tanten und Cousins erzählen und wie viele Geschenke sie zu Weihnachten und zum Geburtstag von ihren Großeltern bekommen?«
»Du bist ein kluger Junge, David. Lass dir von keinem deinen Aufsatz ausreden. Wenn niemand schreiben dürfte, wozu ihn sein Herz treibt, wäre die Welt noch ärmer, als sie schon ist. Vater und Mutter kannst du auch ehren, wenn sie nicht recht haben. Du musst nur so schreiben, dass dein Lehrer sich genau vorstellen kann, was du empfindest. Wenn Charles Dickens und Walter Scott nicht darauf geachtet hätten, dass ihre Leser im Bild waren, würde kein Mensch mehr von David Copperfield oder Ivanhoe reden.«
Es war nicht schwer, einen ersten Satz für seinen Aufsatz zu finden – David brauchte nur an das Gespräch mit Sam zu denken. Obwohl er in seiner Einleitung Frankfurt als eine Stadt beschrieb, in der Männer Lederhosen trugen und Frauen Zöpfe hatten und im Winter auf einem zugefrorenen Fluss, der Oderneiße hieß, Schlittschuh liefen und in Zelten wohnten, weil ihre Häuser zerbombt waren, gelang es ihm, seine Familiengeschichte sehr anschaulich – und sehr bewegend – darzustellen. Auch die Bedenken, die sein Vater gehabt hatte, berücksichtigte er. »Ich weiß«, schrieb David zum Schluss, »dass viele Menschen Deutschland hassen, und ich kann das sehr gut verstehen. Mir wäre es auch lieber, wenn meine Großmutter und mein Onkel, die Tante und meine beiden Cousinen in Kapstadt, Johannesburg oder Pretoria leben würden. Dann könnte ich sie in den Ferien besuchen, und sie würden zu uns nach Kapstadt reisen und alle Englisch sprechen, doch mein Vater sagt immer: ›Man muss im Leben akzeptieren, was Gott einem gibt.‹ Der hat mir ein Leben in Südafrika gegeben, und meine Verwandten hat er in Deutschland angesiedelt. Er hat sie vor Hitler und dem Tod gerettet, da wird es ihm bestimmt recht sein, wenn wir uns kennenlernen.«
Er war, als er seinen Aufsatz las, um die letzten Fehlerteufel aufzuspüren, die vergessenen Kommata einzusetzen und sich von Neuem über einen winzigen Tintenfleck auf der siebten Seite von zehn zu ärgern, so benommen, als wäre er in der Mittagssonne eingeschlafen. Wie Rachel als Baby, als ihre Nanny nicht gewusst hatte, dass die Sonne wandert.
Er dachte an seine krebsrote Schwester und seine brüllende Mutter und dass die Nanny noch am selben Tag hinausgeflogen war und mit unglaublich unanständigen Flüchen, die seine Mutter bestimmt auch heute noch nicht verstand, das Haus verlassen hatte. Ihm fiel ein, dass die Nanny mit aufgespanntem Regenschirm über den Rasen gehetzt war, um sich vor der Sonne zu schützen, was seine Mutter noch viel wütender gemacht hatte, als sie ohnehin schon war. Das fand er noch nach Jahren so komisch, dass er lachte, nein, er wieherte wie ein Mann, der einen Witz erzählt, den eine Frau nicht verstehen soll. Zwei Glanzstare flogen verschreckt aus der Dornakazie, ein Schmetterling ließ eine Blüte von einer Flamingoblume im Stich. »Sorry«, entschuldigte sich David, obwohl er der Meinung war, dass ein Mann durchaus das Recht hatte, beim Lachen wie ein Nilpferd zu prusten.
Seine Finger fühlten sich an, als wären sie aus Holz, farbige Punkte, die sternengroß wurden und dann so plötzlich schrumpften, wie sie gekommen waren, tanzten vor seinen Augen.
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