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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Junge, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.«
    Die übrigen Familienmitglieder, sowohl die Bewohner der Rothschildallee als auch die Gäste aus Kapstadt, die bis tief in die Nacht von einem Leben erzählten, das in Frankfurt so wenig vorstellbar war wie eine Landung auf dem Mond, machten sich Sorgen um Betsy. Vor dem großen Geburtstagsfest für ihre fünfzigjährigen Zwillinge schien sie noch entschlossener als sonst, ihr eigenes Alter niederzukämpfen. An dem Tag, als die »Edinburgh Castle« in Hamburg einlief, Alice in Frankfurt anrief und Betsy nach dreizehn Jahren zum ersten Mal die Stimme ihrer Tochter hörte, weinte sie fünf Minuten lang so heftig, dass sie hinterher behauptete, sie hätte den ganzen Tag geweint. Am Tag darauf malte sie ein Plakat, auf dem zu lesen war: »Lebe, als solltest du morgen sterben, und arbeite, als solltest du ewig leben.« Sie klebte ihr Kunstwerk an die Tür vom Küchenbüfett und sagte: »Ich meine, damit ist das Thema erledigt.«
    Clara ließ nicht locker. »Du kannst doch wenigstens vormittags im Bett bleiben und dich richtig ausschlafen, eine Frau in deinem Alter hat alles Recht der Welt, im Bett zu frühstücken.«
    »Seit wann haben Frauen irgendwelche Rechte? Außerdem verlernt eine Mutter von fünf Kindern das Ausschlafen, wenn das erste zahnt. Du kannst ja deine Schwester fragen, wenn sie kommt. Du und Erwin habt beim Zahnen bis in den Morgen gebrüllt. Und wenn es so weit ist, dass eine treusorgende Mutter sich an den Krümeln im Bett freuen könnte und es ihr nichts ausmacht, sich mit heißem Kaffee zu überbrühen, ist sie zum Frühaufsteher geworden. Jedenfalls fühle ich mich mit achtundsiebzig einfach nicht mehr jung genug, um mit dem Schnickschnack der Biedermeierzeit anzufangen. Ich muss Gott danken, wenn er mich morgens wissen lässt, dass ich in der Nacht nicht sanft entschlafen bin.«
    »Aber gönn’ dir doch wenigstens die kleinen Pausen, für die die Gewerkschaft kämpft«, sagte Erwin. »Warum musst du einen Kuchen nach dem anderen backen? Und Plätzchen, als hättest du ein ganzes Waisenhaus zu versorgen? Wir finden es ja großartig, dass du das noch kannst, wenn du allerdings so weitermachst, klappst du noch zusammen, ehe Clara und ich die erste Geburtstagskerze angezündet haben. Das gilt auch für Josepha. Ich habe erst gestern wieder versucht, ihr das klarzumachen, aber ebenso gut kann man einem Ochsen ins Horn petzen.«
    »Es gibt doch auch beim Bäcker wieder Kuchen«, sagte Fritz. »Meine Mutter hat immer gesagt: ›Bäcker machen den besten Bienenstich.‹«
    »Bei uns ließ sie sich nicht lange bitten, wenn es Bienenstich gab, und der war von mir. Glaubst du denn, meine Tochter und mein Schwiegersohn sind mit fünf kleinen Kindern von Afrika nach Deutschland gereist, um Kuchen vom Bäcker zu essen? Alice sind gestern schon bei den Mandelplätzchen die Tränen gekommen. Dabei hat Anna die gebacken. Allerdings nach dem Rezept, das ich von Frau Meyerbeer hatte. Die war eine miserable Hausfrau, doch ihre Mandelplätzchen waren außergewöhnlich gut.«
    »Alice sind bei jeder Gelegenheit die Tränen gekommen«, erinnerte sich Erwin. »Darum habe ich sie immer beneidet. Knopf an, Tränen marsch! Selbst Vater ließ sich von Alice beeindrucken. Sie war eben das Nesthäkchen. Ich sollte ein deutscher Mann werden. Na ja, sie ist das Nesthäkchen geblieben, aber aus Erwin ist kein deutscher Mann geworden.«
    »Sag nur, du bist immer noch eifersüchtig!«
    »Wenn ich sehe, was meine Schwester aus ihrem Leben gemacht hat, muss ich doch eifersüchtig werden. Sie ist so jung und schön wie einst im Mai, bloß jetzt hat sie den Verstand, den wir ihr immer abgesprochen haben. Ihre Kinder kann ich gar nicht anschauen, ohne dass mein Herz schmilzt, und einen Mann hat sie an Land gezogen, dem ich nicht das Wasser reichen kann. Obwohl er in die Emigration musste und kein Wort Englisch konnte, hat er einen Bombenberuf; dem begabten Erwin ist es im Land seiner Väter noch nicht einmal geglückt, auch nur ansatzweise die Sprache seines Volkes zu lernen. Und Englisch kann er auch nicht gut. Außerdem imponiert mir, dass Leon sich durch nichts, was Gott geschehen ließ, seine Frömmigkeit hat austreiben lassen.«
    »Vor allem versucht dieser Prachtbursche nicht, seiner Schwiegermutter einzureden, dass alte Leute unauffällig ins Paradies hinüberzudämmern haben.«
    Es war nachmittags um zwei und die Wohnung so still wie seit Tagen nicht, als Betsy das Gespräch

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