Neubeginn in Virgin River
diesen traurigen, mitleidsvollen Augen an. Und weil sie mich nicht so ansehen, breche ich auch nicht so oft zusammen. Jedenfalls nicht in Anwesenheit anderer.“
„Oh Mel“, seufzte Joey, „ich wünschte, ich könnte dir irgendwie helfen …“
„Aber Joey, ich muss diese Trauer ertragen. Es gibt keinen anderen Weg. Und ich muss auch damit leben, dass ich vielleicht nie darüber hinwegkommen werde.“
„Ich hoffe, dass das nicht der Fall sein wird, Mel. Ich kenne Witwen. Witwen, die wieder geheiratet haben und glücklich sind.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Mel und berichtete Joey dann alles, was sie über den Ort wusste. Sie erzählte von den Leuten, die in Does Praxis gekommen waren, um sie kennenzulernen. Von Jack und Preacher. Und davon, dass es hier draußen so viel mehr Sterne am Himmel gab. Die Berge, die Luft, die so sauber und klar war, dass es einen verblüffte. Die Leute, die zum Arzt kamen und Dinge mitbrachten, wie zum Beispiel Unmengen von Lebensmitteln, wovon dann gleich wieder ein großer Teil auf die andere Seite der Straße ging, wo Preacher sie in seinen Kreationen verarbeitete. Und dass Jack sich weigerte, auch nur einen Cent von Doc oder Mel für Essen oder Getränke anzunehmen. Bei Jack hatte jeder, der sich um das Wohl des Ortes kümmerte, ein Freiticket.
„Aber es ist sehr ländlich. Doc hat im Büro des Kreis-Sozialdienstes angerufen, jedoch stehen wir auf einer Warteliste, schätze ich. Wer weiß, wie lange die brauchen, bis sie eine Pflegefamilie gefunden haben. Offen gestanden, ich habe keine Ahnung, wie dieser alte Arzt es all die Jahre ohne Hilfe schaffen konnte.“
„Und die Leute sind nett?“, fragte Joey „Anders als der Arzt?“
„Die ich bisher getroffen habe, sehr nett. Aber, abgesehen davon, dass ich dich beruhigen wollte, ist der Hauptgrund für meinen Anruf, dir zu sagen, dass du mich bei Doc erreichen kannst. Das Handy funktioniert hier draußen einfach nicht. Ich gebe dir die Nummer.“
„Nun“, sagte Joey, „zumindest klingst du so, als ob alles in Ordnung wäre. Genauer gesagt, du klingst besser als seit Ewigkeiten.“
„Wie gesagt, es gibt Patienten hier. Herausforderungen. Ich bin auch ein bisschen aufgedreht. Am allerersten Tag hat Doc mich hier allein gelassen, mit dem Säugling und dem Schlüssel für den Medikamentenschrank. Er meinte nur, ich sollte mich mal um die Patienten kümmern, die vorbeikämen. Keine Einweisung, gar nichts. Es kamen dann ungefähr dreißig Leute. Nur so, um Hallo zu sagen. Wahrscheinlich ist es das, was du in meiner Stimme hörst. Adrenalin.“
„Schon wieder Adrenalin. Ich dachte, du wolltest damit aufhören.“
Mel lachte. „Das hier ist aber eine völlig andere Sorte.“
„Also gut, wenn du da oben fertig bist, kommst du doch aber nach Colorado Springs?“
„Ich habe nichts Besseres vor“, antwortete Mel.
„Wann?“
„Weiß nicht. In ein paar Tagen, hoffentlich. Allerhöchstens ein paar Wochen. Aber ich werde dich anrufen und dir Bescheid sagen, wenn ich unterwegs bin. Okay?“
„Gut. Aber du hörst dich echt … besser an.“
„Hier gibt es nirgendwo die Möglichkeit, sich Strähnchen machen zu lassen. Eine Frau aus dem Dorf frisiert die Leute in ihrer Garage. Mehr ist nicht“, sagte Mel.
„Oh mein Gott“, rief Joey. „Dann solltest du aber wirklich zusehen, dass du von dort wegkommst, bevor die hässlichen Ansätze nachwachsen.“
„Genau, das wollte ich damit sagen.“
Es war Mittwoch, der Tag der Sprechstunde. Mel hütete das Baby und versorgte ein paar Patienten, die nur geringfügige Beschwerden hatten. Ein verstauchter Fuß, eine heftige Erkältung, eine weitere pränatale Kontrolluntersuchung, das Check-up eines gesunden Babys und einige Impfungen. Anschließend tauchten noch ein paar Patienten ohne Termin auf. Sie nähte die Platzwunde am Kopf eines Vierzehnjährigen, und Doc meinte: „Nicht schlecht.“ Dann musste Doc noch zwei Hausbesuche machen, und schließlich wechselten sie sich bei der Beaufsichtigung des Babys ab, um drüben bei Jack etwas zu essen. Die Leute, die sie an der Bar traf, hießen sie ebenso herzlich willkommen wie die Patienten, die in die Praxis gekommen waren. „Ich bin aber nur vorübergehend hier“, erklärte sie vorsichtshalber. „Doc braucht wirklich keine Hilfe.“
Im Geschäft an der Ecke gab Mel bei Connie eine weitere Bestellung für Windeln auf. Der Laden war bloß ein Mini-Markt, und Mel erfuhr, dass die Einheimischen
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