Neue Schuhe zum Dessert
andersherum. Damals habe ich nur die schrecklichen Dinge gesehen, die einem Menschen zustoßen konnten. Diesmal sah ich all die schrecklichen Dinge, die nicht geschahen. Die Welt ist ein sicherer Ort , dachte ich, und das Leben ist kein besonders risikantes Unternehmen.
Am folgenden Tag kehrte Dad widerstrebend nach London zurück – Debs brauchte ihn dringend, er sollte ein Marmeladenglas aufmachen oder so –, und dann waren wir zu dritt: Ema, Mum und ich. Das Wetter war fantastisch, und meine Stimmung auch. Ich glaubte, vor Freude darüber, dass ich keinen Tinnitus hatte, zerspringen zu müssen. Oder keine Lepra.
Mit leuchtenden Augen sagte ich zu Mum: »Ist es nicht wunderbar, keine Gicht zu haben?«
Sie explodierte: »Das reicht jetzt aber!«, griff zum Telefon und rief den Arzt an.
Weniger als eine Stunde später trat Doktor Lott, ein junger Mann mit lockigem Haar, in mein Schlafzimmer mit Rosenmuster. »Wo haben wir das Problem?«
Mum antwortete für mich. »Ihre Beziehung ist gescheitert, ihre berufliche Laufbahn auch, und sie ist sehr glücklich. Das stimmt doch, oder?«
Ich nickte. Ja, das stimmte.
Doktor Lott runzelte die Stirn. »Das ist Besorgnis erregend«, sagte er. »Besorgnis erregend, aber kein Zeichen von Krankheit.«
»Ich wäre beinahe gestorben«, sagte ich.
Er sah Mum an. Zog die Augenbrauen fragend hoch.
»Nein, nicht ihretwegen.« Ich erzählte das mit dem Unfall.
»Ah«, sagte er. »Das erklärt alles. Ihr Körper ist so erstaunt, dass er lebendig ist, und deswegen haben sie einen enormen Ausstoß an Adrenalin. Daher ihr Gefühl der Euphorie. Keine Sorge, das geht bald vorbei.«
»Sie meinen, ich werde bald wieder deprimiert sein?«
»Ja, bestimmt«, versicherte er mir. »Vielleicht sogar schlimmer als normal. Sie könnten einen Adrenalineinsturz haben.«
»Gut, da bin ich ja froh«, sagte Mum. »Danke, Herr Doktor, ich bringe Sie nach unten.«
Sie ging mit ihm zu seinem Saab, und ihre Stimmen drangen durch das Fenster herein.
»Können Sie ihr wirklich nichts verschreiben?«, hörte ich Mum fragen.
»Was zum Beispiel?«
Mum klang verwirrt. »Na, so was wie das Gegenteil von einem Antidepressivum?«
»Ihr fehlt nichts.«
»Aber es ist unerträglich. Und ich mache mir Sorgen, was dieses positive Verhalten bei ihrem Kind anrichtet.«
»Das kleine Mädchen, das die Schafe angeschrien hat? Sie scheint nicht traumatisiert zu sein. Und ehrlich gesagt ist es das Beste für das Kind, wenn ihre Mutter nach so einem Schock fröhlich und positiv ist.«
Am liebsten hätte ich die Faust gereckt zum Siegesgruß. Ich machte mir ständig Sorgen um Ema, es saß mir unablässig im Nacken. Jetzt war ich hocherfreut, dass ich – eher versehentlich – genau das Richtige für sie tat.
»Machen Sie sich keine Sorge«, versprach der Arzt Mum. »Ihre Euphorie wird bald verschwinden.«
»Und während wir warten?«
»Sie ist doch Schriftstellerin, oder? Warum überreden Sie sie nicht dazu, das alles aufzuschreiben. Wenn sie darüber schreibt, dann redet sie nicht darüber.«
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als ich schon nach meinem Stift und dem Heft gegriffen hatte und meine Hand schreiben sah: »Eines Morgens wachte Grace auf und stellte wieder einmal fest, dass auch in dieser Nacht kein Flugzeug auf sie runtergekommen war.« Ein guter erster Satz, fand ich.
Und genauso der Absatz, der folgte, in dem Grace sich unter der Dusche nicht verbrühte, eine Schale Müsli aß und sich nicht an einer Nuss verschluckte, den Kessel aufsetzte und keinen elektrischen Schlag bekam, ihre Hand in eine Schublade steckte und sich nicht mit einem Messer eine Sehne durchtrennte, und als sie das Haus verließ, nicht auf einer Bananenschale ausglitt und unter einem vorbeifahrenden Auto landete. Auf dem Weg zur Arbeit hatte ihr Bus keinen Unfall, sie wurde nicht von Krebs befallen, ausgelöst durch ihr Handy, und es fiel auch nichts Schweres vom Himmel und begrub ihren Arbeitsplatz unter sich – und all das vor neun Uhr morgens! Den Titel hatte ich auch schon: Ein zauberhaftes Leben.
Ich brauchte keine fünf Wochen, um das Buch zu schreiben. In dieser Zeit wohnten Ema und ich bei Mum, ich saß an Mums PC und klapperte in die Tasten, und meine Finger waren kaum in der Lage, mit den Wörtern, die mir durch den Kopf jagten, mitzuhalten.
Als klar wurde, dass ich etwas Großes angefangen hatte, übernahm Mum Emas Versorgung. An den Tagen, an denen sie arbeiten musste (sie hatte einen Job
Weitere Kostenlose Bücher