aber es war buchstäblich Jahre her – also mindestens ein Jahr –, dass ich so ausgetickt war. Obwohl, irgendwas musste anders sein als beim letzten Mal, als ich mit einem Mann nach Hause gekommen war, von dem ich nicht mehr wusste, dass ich ihn überhaupt kennen gelernt hatte, denn dieser schlaue Jüngling hatte mir einen Zettel hingelegt. Ich dachte, diese Typen machten sich gewöhnlich um vier Uhr morgens, die Unterhose in die Jacketttasche gestopft, aus dem Staub und ließen sich nie wieder blicken. Auf einen von den Darmspülungshandzetteln (ich hatte haufenweise davon bekommen) hatte er mit meinem Kajalstift geschrieben:
Kohlenschüttenengel, du übst einer seltsamen Reiz auf mich aus. Lass es uns noch einmal machen. Ich melde mich bei dir, sobald meine Prellungen verheilt sind .
Owen
PS Lebe lang und glücklich .
Ich melde mich.
Trotz meiner schmerzenden Augen, meines zerdrückten Haars, meines geschwollenen Hirns dämmerte mir bei diesen Worten etwas: Das schreckliche, verhängnisvolle Gefühl, das auf mir lastete, kam nicht nur von dem Kater, sondern hatte mit Mam zu tun! Mein Blick wanderte zum Telefon – fast hatte ich Angst zu gucken. Das Licht am Anrufbeantworter blinkte wie wild. Mir schien es mit erhöhter Geschwindigkeit zu blinken, als wäre es wütend. (Vielleicht ist das möglich? Blinkt es tatsächlich schneller, wenn auf dem Anrufbeantworter viele nicht abgehörte Mitteilungen sind?)
Oh, diese Angst. Diese schreckliche, furchtbare Angst. Es war, als hätte der Wecker nicht geklingelt und ich hätte die Hochzeit meiner besten Freundin, einen Gratisflug mit der Concorde nach Barbados oder eine lebensrettende Operation verpasst …
Ich dürfte gar nicht in meiner Wohnung sein. Ich hätte gestern Abend wieder zu Mam gehen sollen. Ich hatte ihr das versprochen, nur so hatte ich sie überreden können, mich ziehen zu lassen. Wie konnte ich das vergessen? Wie konnte ich heute Morgen wieder einschlafen? Wie war es möglich, dass ich jetzt erst an sie dachte?
Ich drückte auf »Wiedergabe«, und als die flache Margaret-Thatcher-Stimme zu hören war mit: »Sie haben zehn neue Mitteilungen«, wäre ich am liebsten gestorben. Die ersten vier waren von Gary und Gaye über mir. Sie waren sehr, sehr empört. Dann fingen Mams Anrufe an. Der erste war von fünf Uhr morgens. »Wo bist du? Warum bist du nicht nach Hause gekommen? Warum gehst du nicht an dein Handy? Ich habe bisher kein Auge zugetan.«
Dann ein Anruf um viertel nach sechs, einer um halb neun, und einer um zwanzig nach neun. Sie klang immer wirrer, und um halb elf keuchte sie ins Telefon: »Es geht mir nicht gut. Ich kriege keine Luft mehr. Diesmal ist es wirklich mein Herz. Wo bist du nur?«
Die letzte Mitteilung war nicht von Mam, sondern von Mrs Kelly. »Deine arme Mutter ist ins Krankenhaus eingeliefert worden, sie war in einem jammervollen Zustand«, sagte sie kühl. »Wenn du die Zeit fändest, dich zu melden, wären wir dir dankbar.«
9
AN:
[email protected]VON:
[email protected]THEMA: Dreitagekater
Erst seit heute nehme ich wieder feste Nahrung zu mir.
Mam hatte – Gott sei Dank – keinen Herzinfarkt, sondern wieder einen Panikanfall. Die Krankenschwestern haben ihr Vorhaltungen gemacht und erklärt, dass »die Verursachung von falschem Alarm eine Ordnungswidrigkeit« sei, aber als sie ihnen erklärte, dass Dad sie verlassen habe und ich nicht nach Hause gekommen sei, richteten sie ihren Ärger auf mich, und ich hatte solche Gewissensbisse, dass ich ihre Schelte stumm einsteckte.
Dad ist immer noch nicht zurückgekommen. Die ganze letzte Woche, als ich rund um die Uhr gearbeitet habe, hatte ich keine Zeit, richtig darüber nachzudenken. Aber jetzt läuft mein Leben wieder in normalen Bahnen, und da habe ich mir klar gemacht, dass schon mehr als zwei Wochen vergangen sind, seit er ausgezogen ist. Es kommt mir vor, als wäre ich in Trance – wie konnten nur zwei Wochen vergehen? Das ist eine erschreckend lange Zeit, aber ich habe mir vorgenommen, einen Monat zu warten; bis dahin ist er wahrscheinlich wieder da.
Cody und Mrs Kelly und die anderen bei der Arbeit schütteln missbilligend den Kopf und erklären, er sei ein alter Dummkopf, aber jedes Mal, wenn ich ihnen zustimmen möchte, wird mir ganz weinerlich zumute, und dann sehen sie mich an, und ich merke genau, dass sie denken: Es ist doch nicht ihr Mann, der sie verlassen hat. Frauen dürfen weinen und jammern, aber Töchter