neue SF 1
Jahren nicht mehr gesehen. Doch jetzt …«
»Bist du belustigt, Jerry? Daß ich mir meine Ethik bewahre, auch bei all dem?« Er trank von seinem Drambuie, schleuderte plötzlich das Glas von sich, die Klippe hinab. Die Flüssigkeit wurde ausgeschüttet, verstreute sich in flachem Bogen, und während das Glas davonstürzte, schien sie zu zögern, ehe sie folgte und dabei zu einem losen Regen zersprühte. »Nein, natürlich bist du nicht belustigt. Ich habe das Boot vernichten lassen. Verbrennen. Tut mir leid.«
»Ich finde schon eine Möglichkeit.«
Michael musterte Jerry, öffnete den Mund, schloß ihn wieder und wandte sich ab.
»Eine Frau«, sagte Jerry. »Und einen Sohn.« Es mochte beruhigend sein, es half ihm vielleicht, wenn sein Freund weinte. Die Trennung, wie auch immer, würde ihm nicht leicht fallen.
Michael nickte wortlos. Er griff in die monogrammverzierte Tasche und nahm ein gekochtes Ei heraus, bereits gepellt, legte es auf seine Handfläche, griff noch einmal in die Tasche und brachte zwischen Daumen und Zeigefinger einen kleinen Silberlöffel zum Vorschein. Der Löffel pendelte locker hin und her; die Hände waren bleich, weißlich aufgedunsen, die Finger vollkommen gerade, die Gelenke kaum faltig. Er wußte aus Erfahrung, daß es zwecklos war, Jerry ein Ei anzubieten. Doch so sinnlos sie auch schien, so eine Geste war in diesen Tagen … Er blickte seinen Freund über die Tischplatte fragend an, und Jerry schüttelte den Kopf. Sein Haar war nun kurz, kürzer, als Michael es je gesehen hatte. Bei seiner Ankunft war es schmutzig und zerzaust gewesen; indem er ihn reparierte, wieder herrichtete, hatte Michael keine andere Wahl gehabt, als es abzuschneiden. Er dachte daran, wie Jerry stumm in den Spiegel gestarrt und zugesehen hatte, wie die feinen, verfilzten schwarzen Haarlocken auf seine Schultern fielen, über Brust und Arme herabrollten, während sein Freund sich hinter ihm bewegte, die Schere handhabte.
Michael lebte von Eiern (obwohl sie wahrlich nicht leicht zu beschaffen waren) und Drambuie, doch er hatte noch nicht feststellen können, was Jerry in Schwung hielt. Er hatte ihn nie essen sehen, niemals und nichts. Es wollte ihm scheinen, als würde Jerry von Tag zu Tag dünner, und seine Bewegungen waren in den letzten Tagen auch von einer gewissen Schwäche überlagert – einer Schwäche, die Michael zuerst im Bett bemerkt hatte, eine Schwäche, die um so bemerkenswerter war, als sie so sehr mit Jerrys starker, tiefer Stimme kontrastierte. Die Kräfte, die ihm noch verblieben, schienen sich in dieser Stimme gesammelt zu haben und in seinen Händen – und selbst hier äußerte sich eine seltsame Trägheit.
Michael hob die Hand und betrachtete das Ei gegen die rauchverhangene Luft. So einfach, so symmetrisch. Ei und Hand waren kaum zu unterscheiden. Die Stimme seines Freundes klang über den Tisch, nun milde und leise.
»Nicht die Wirkungen findet man unerträglich, sondern die Tatsachen .«
Michael antwortete nicht. Keiner der beiden Männer bewegte sich; sie schauten über das Wasser zur Stadt.
»Aber es gibt sie nun mal. Unerbittlich, unbeschreiblich, unerträglich.«
»Wenn so etwas wie Tatsachen existiert …?«
»Das Fehlen von Tatsachen, in seiner Wirkung, wird zur Tatsache.«
»Ja. Ich nehme an …« Was hatte er sagen wollen? Was auch immer, es war ihm verloren. Er schüttelte den Kopf und schaute wieder auf das Ei. »Versuch mir nicht zu helfen, Jerry.« Er drückte den Löffel in das Ei, und ein Brocken Weißes sprang in die Luft, landete außerhalb der Veranda und stiebte eine feine Wolke Aschestaub auf. Jerry sah zu, wie er einen hellgelben Brocken auf die Spitze des fingernagelgroßen Spatens schob und ihn zum Mund führte. Eine rosa Zunge kam heraus, rollte wieder in den Mund. Jerry überlegte träge, wie das Ei mit Drambuie schmecken mochte. Er hob sein Glas, das nun leer war, und ein Tropfen des dicken schweren Likörs, der sich unten am Boden gesammelt hatte, glitt langsam auf seine Zunge herab. Das Ei war nun auf der Hand seines Freundes in trockene Stücke zerdrückt.
Jerry blickte zum Garten hinüber. Es war ihm unmöglich, seinem Freund beim Essen zuzuschauen. Zum erstenmal bemerkte er drüben ein Schild, ein handbemaltes Viereck an kurzem Stock, fast verloren in den wogenden Kohlkulturen: Achte stets auf den COLORADO-KÄFER. Er kann deine Kartoffeln vernichten. Er erinnerte sich daran, das gleiche Schild vor Jahren in jedem Londoner Postamt gesehen zu
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