Neue Vahr Süd: Neue Vahr Süd
Stück weiter weg, in der Eislebener Straße, einer Gegend, die er, obwohl auch sie zur Neuen Vahr gehörte, kaum kannte und von der er sich auch nicht sicher war, ob sie überhaupt noch zur Neuen Vahr Süd oder nicht vielleicht doch schon zur Gartenstadt Vahr gehörte, ganz im Gegensatz zur Kaserne, bei der er sich sicher war, daß sie zur Neuen Vahr Süd gehörte, obwohl man das so auch wieder nicht sagen konnte, wie er fand, denn eigentlich hatte die Kaserne mit dem Viertel, in dem er aufgewachsen war, nicht allzuviel zu tun, geogra-phisch mochte sie in der Neuen Vahr Süd liegen, aber des-halb gehörte sie noch lange nicht dazu, im Gegenteil, er selbst hatte zwanzig Jahre in ihrer unmittelbaren Nähe gelebt, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, welch eine seltsame Art zu leben sich hinter ihren Zäunen und Mauern verbarg, wenn man das, dachte Frank, während er, wie so oft, wenn er die Kaserne am Feierabend verließ, über dieses Phänomen nachdenkend zu seinem Auto eilte, überhaupt Leben nennen kann, was in dem Laden da veranstaltet wird, vielleicht ist es auch bloß eine Art Untotsein, eine Art Zombieexistenz, dachte er, so wie in den Filmen, von denen Meyer immer erzählt, oder ist es Groß, Frank merkte, daß er die beiden langsam durcheinanderbekam. »Man kann sie leicht verwechseln«, hatte der Obergefreite Koch einmal zu ihm gesagt, »sie sind von Geburt an eine Einheit, ohne es bisher gewußt zu haben, die beiden teilen sich ein Gehirn«, hatte Koch gesagt, »eigentlich brauchten sie auch nur einen Satz Essenmarken«, und Frank stimmte ihm mittlerweile von ganzem Herzen zu, aber nur bis zu dem Moment, in dem er in seinem Auto saß.
Denn sobald er in seinem Auto saß, war die Kaserne verschwunden, das war das Schöne daran, und deshalb litt er auch sehr unter der entzogenen Parkerlaubnis, durch den Entzug der Parkerlaubnis kam er jetzt zum Feierabend immer erst mit einer gewissen Verspätung in sein Auto, und obgleich sein Auto nun wirklich nichts Besonderes war, auch nicht sehr gemütlich oder gepflegt oder auch nur sauber, obwohl es eigentlich sogar, wenn man ehrlich war, eher ein rollender Mülleimer war, der kurz davor stand, das Rollen endgültig aufzugeben, so war der Kadett aber gerade dadurch so eindeutig ein ziviles Fahrzeug, gehörte so eindeutig zu einem anderen, besseren Leben als dem in der Kaserne, daß in dem Moment, in dem Frank mit dem Hintern die im Herbst immer feuchten Polster berührte, die Bundeswehr verschwunden war, ausgelöscht, vergeben und vergessen, ein Problem anderer Leute, und das sogar dann, wenn Frank, wie auch an diesem Freitagnachmittag, noch das Grünzeug trug, also eigentlich in Uniform war.
Und im Grünzeug fuhr er nun in das Ostertor-/Steintor-viertel und hatte das Glück, am Sielwall einen zwar nicht ganz astreinen, aber auch nicht allzu illegalen Parkplatz zu ergattern, in den er den Kadett irgendwie hineinzwängte. Als er aus dem Auto stieg, stand ein fremder Mann vor ihm und starrte ihn an.
»Frankie«, rief der Mann und breitete die Arme aus. »Bist du’s wirklich?«
»Was soll das?« sagte Frank überrascht. Er hatte keine Ahnung, wer der Typ sein konnte, der da in einem schwarzen verknitterten Nadelstreifenanzug mit Krawatte vor ihm stand, mit zurückgekämmten, gegelten Haaren und, wie er mit einem Blick nach unten feststellen konnte, spitzen Schuhen. Leute, die so herumliefen, kannte er nicht.
»Frankie, Frankie, Frankie«, rief der Mann, dessen Stimme Frank allerdings bekannt vorkam, »ich bin’s, dein Bruder, hallo, hallo, ich bin’s, Manni!«
»Mein Gott, Manni«, sagte Frank verdattert.
»Manni?!« sagte jemand neben Franks Bruder spöttisch, ein Typ in etwa demselben Alter wie Frank, aber so ähnlich gekleidet wie Franks Bruder, auch er in Anzug und Krawatte, dafür aber einen Kopf größer als sie beide, er sah aus wie ein Riesenbaby, fand Frank, und das Riesenbaby fügte hinzu: »Manni? Frankie? Das ist ja richtig herzerwärmend!«
»Bruder, laß dich in die Arme schließen. Mein Gott, wie siehst du bloß aus«, sagte Manni.
»Das könnte ich dich auch fragen«, sagte Frank, der langsam begriff, daß es wirklich sein Bruder war, der da vor ihm stand, und er wollte sich eigentlich auch anständig freuen, daß er seinen Bruder, der ihm doch ziemlich gefehlt hatte in der letzten Zeit, endlich wiedersah, aber irgendwie hatte ihn die Sache hier und jetzt auf dem falschen Fuß erwischt, er war darauf nicht vorbereitet, schon gar nicht
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