Neue Vahr Süd: Neue Vahr Süd
waren neun Leute auf der Stube, es gab drei dreistöckige Betten, neun Spinde, neun Stühle, einen Tisch und einen Aschenbecher. Der Raum roch nach Zigaretten, Alkohol und alten Socken. Sie schreien und schreien und schreien, dachte er, sie können gar nicht anders, man darf es nicht persönlich nehmen, das ist das ganze Geheimnis, dachte er. Dann kam wieder jemand hereingestürmt, sah ihn da sitzen und fragte ihn brüllend, ob er tot sei oder warum er sonst herumsäße wie ein Sack Mehl. Er brauchte nicht zu antworten. Es war eine rhetorische Frage, und der Mann war gleich wieder draußen. Frank stand auf und ging zu seinem Spind. Das war sicher nicht persönlich gemeint, dachte er wieder, aber er wußte, daß das nicht viel zu bedeuten hatte, das sind alles nur Mutmaßungen, dachte er, es ist eine fremde Welt, und über die Motive und Absichten dieser Leute kann man nur spekulieren, dachte er und öffnete den Spind. Alles schön und gut, dachte er dann und starrte in den Spind hinein, alles schön und gut. Das Problem ist nur, daß man so eine furchtbare Angst vor ihnen hat!
Wenn es heißt >3. Zug raustreten<, dann treten Sie aus den Stuben heraus und stellen sich auf dem Flur auf. Die Fußspitzen berühren genau die zweite Fuge der Steinplatten. Das habe ich Ihnen gestern gesagt, das sage ich Ihnen heute und das sage ich Ihnen morgen. Übermorgen ist Freitag. Wenn Sie das bis dahin nicht begriffen haben, üben wir das am Wochenende auch noch. Und raustreten heißt nicht schlendern, raustreten heißt rennen, Männer. Ist das klar?«
Fahnenjunker Tietz stand direkt vor Frank, als er das brüllte, und dann schaute er triumphierend nach links und nach rechts den Flur hinunter.
»Fahnenjunker Heitmann und GUA Pilz werden jetzt Ihre Stuben inspizieren«, fuhr er brüllend fort. »Wenn Ihr Name gerufen wird, ist das schlecht für Sie. Dann rennen Sie in die Stube und tun, was man Ihnen sagt.«
Die beiden genannten Männer stürmten in eine Stube, erste Namen wurden gerufen.
Frank fürchtete das Schlimmste, und nur um irgendwas zu tun, schaute er hinunter, ob seine Fußspitzen auch wirklich an der zweiten Fuge der Steinplatten waren. Dann schaute er wieder hoch, und sein Blick traf den des Fahnenjunkers.
»Ist was? Haben Sie noch Fragen?«
»Nein.«
»Nein, Herr Fahnenjunker, heißt das.«
»Nein, Herr Fahnenjunker.«
»Also gleich nochmal: Wie heißt das?«
Das ist ihnen wichtig, dachte Frank, daß man genau so redet, wie sie es wollen. Er fand das eigenartig. Noch eigenartiger aber fand er die unglaubliche Unfreundlichkeit, mit der ihm und seinen Leidensgenossen hier begegnet wurde.
»Wie heißt das?« brüllte Fahnenjunker Tietz mit überschnappender Stimme.
Das ist seltsam, dachte Frank, eigentlich müßten sie doch froh sein, daß man nicht verweigert hat.
»Was jetzt?« fragte er zerstreut.
»Was jetzt, Herr Fahnenjunker! Sie sagen immer am Ende Herr Fahnenjunker, wenn Sie mit mir sprechen, haben Sie das verstanden.«
Ich meine, wer ist noch so blöd und geht zum Bund, dachte Frank, da müßten sie doch eigentlich über jeden froh sein, der kommt, und ihn nett behandeln, wie ein rohes Ei eigentlich, dachte er.
»Haben Sie das verstanden?!«
»Ja.«
»Wie?«
»Ja, Herr Fahnenjunker.«
»Jawohl, Herr Fahnenjunker, jawohl Herr Fahnenjunker heißt das. Ja ist was für Zivilisten, Sie sagen jawohl, wenn Sie einen Befehl empfangen oder eine Frage bejahen.«
»Jawohl, Herr Fahnenjunker.«
»Wie heißen Sie noch mal?«
»Lehmann.«
»Lehmann, Herr Fahnenjunker. Genauer gesagt: Pionier Lehmann, Herr Fahnenjunker. Sie sind jetzt Pionier, das ist Ihr Dienstgrad, das ist Ihr neuer Vorname, das ist alles, was Sie hier haben. Also nochmal: Wie heißen Sie?«
»Lehmann, Herr Fahnenjunker.«
»Pionier Lehmann. Also nochmal: Wie heißen Sie?«
»Pionier Lehmann.«
»Na? Na?«
»Herr Fahnenjunker.«
»Na also.«
»Pionier Lehmann!« rief es aus Franks Stube.
»Schon weg sein, schon wieder hier sein«, brüllte Fahnenjunker Tietz. Frank lief in die Stube. Dort waren auch schon Schmidt und Hoppe, Hoppe stand vor seinem Spind, hob Hemden vom Boden auf und faltete sie neu zusammen, und Schmidt hing oben an dem dreistöckigen Bett und zupfte an seiner Bettdecke herum. Im Raum stand Fahnenjunker Heitmann, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und wartete auf ihn.
»Was gibt’s denn?« fragte Frank.
»Was gibt’s denn?« kreischte Heitmann. »Was gibt’s denn? Ich höre wohl schlecht.«
Er machte
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