Neue Zeit und Welt
lachen oder weinen sollte.
Luashra sagte: »Ich schlafe mit großem Kummer, weil ich dir das sagen musste, aber es gibt keinen anderen Weg. Du sollst wissen, dass wir dich lieben wie unser eigen Blut. Dein Leben hier wird voller Glückseligkeit sein. Aber du musst auch wissen, dass du die See nie verlassen darfst.«
Damit entfernte sich Luashra.
Die See nie verlassen! Der bloße Gedanke versetzte Joshua in tiefste Verzweiflung. Nie mehr über Wiesen laufen oder in der Ferne die gezackten Spitzen der Sattelberge sehen! Nie mehr Seite an Seite mit einem anderen Menschen gehen! Nein! Aber was konnte er tun? In seine Augen traten Tränen. Er sah Kshro hilflos an.
Sie begann vor Mitgefühl zu weinen und drückte ihn an sich – wiewohl zumindest einige Tränen auch der Freude entsprangen.
»Denk nicht darüber nach, Liebster, noch nicht«, flüsterte sie, bemüht, ihn zu beruhigen. »Du kannst ohnehin nichts tun, bis deine Beine geheilt sind – vielleicht hast du bis dahin deinen inneren Frieden hier gefunden. Mit mir. Bis dahin kann alles mögliche geschehen.«
Es geschah vieles.
Am nächsten Tag wurde Josh von einem lang gezogenen, klagenden Laut geweckt. Er schaute hinaus und sah alle Selkies der Kolonie fünfzig Meter von ihm entfernt zusammengedrängt. Bald kam Kshro zu ihm zurückgeeilt und umarmte ihn heftig, zu verstört, um sprechen zu können.
»Was gibt es, Kshro? Was geht vor?«
»Kourr ist einer Remora zum Opfer gefallen«, sagte sie weinend. »Jetzt muss er fort.«
»Einer Remora? Was ist das?« Er hatte Kshro noch nie so fassungslos gesehen, was ihn erschreckte. Er schob sie mit den Armen von sich und starrte sie an.
»Ein Pestfisch.« Der Atem pfiff durch ihre Zähne. »Er hat als Maul einen Saugnapf, der sich an unserer Haut festsaugt und nicht mehr abgelöst werden kann. Er entzieht uns die Kraft, und zwei Jahre später sterben wir – in Schande, denn wir sind hässlich und allein.«
»Könnt ihr den Fisch nicht töten?«
»Wenn er getötet wird, spritzt er sofort seine Eier ins Wasser. Es sind zehn Millionen, wir könnten sie nie alle töten.«
»Aber warum muss Kourr jetzt fort? Man muss ihn pflegen – ich weiß manches Mittel …«
»Nein, nein.« Sie begann wieder zu weinen. »Die Remora hat ihre Eier schon in sein Blut gebracht. Er muss von uns so weit wegschwimmen, wie er kann – bis eine Woche vorbei ist, kommen die Larven aus seinem Mund und befallen jeden in der Nähe. Von dieser Stunde an muss Kourr alle Wesen meiden.« Sie schauderte und presste Joshua an sich.
Er hielt sie eine Weile fest, streichelte sie, bis sie ruhig wurde, und dachte angestrengt nach. Schließlich sagte er: »Sag Kourr, er soll zu mir kommen.«
Sie starrte ihn verständnislos an, dann schwamm sie davon. Nach einiger Zeit kam Kourr allein zu ihm. Mitten an seinem Rücken hing mit einem schleimigen Saugmaul die Remora, dick, aalartig, klebrig und grau. Kourr wirkte verzweifelt.
»Tut es weh?« fragte Josh.
Kourr wollte Josh nicht in die Augen sehen und schüttelte nur den Kopf. Die Schande war groß.
»Nimm mich mit«, sagte Josh.
Kourrs Augen zuckten kurz zum Gesicht des Menschen. Kshros Bruder schien zu glauben, dass der Mensch ihn verspotten wollte. Dann sah er, dass Josh es ernst meinte, und seine Qual kehrte zurück.
»Ich kann nicht«, sagte er mit erstickter Stimme.
»Ich werde von meinen Leuten gebraucht«, fuhr Josh fort. »Du wirst von den deinen verstoßen. Manche meiner Freunde kennen starke Magie. Bring mich zu ihnen, vielleicht finden sie ein Heilmittel gegen dieses … diesen …«
»Du würdest meine Schwester verlassen?« fragte Kourr.
»Ich komme wieder zu ihr zurück, aber wenn ich kann, muss ich jetzt fort.«
»Nein, es geht nicht – das würde dich auch befallen. Und Luashra hat gesagt, du darfst die See nicht verlassen.«
»Luashra ist alt.«
»Wir sind seine Gedanken, er ist unsere Stimme. Nichts mehr davon. Lebe wohl, Menschenbruder. Ich danke dir für das Spiel des Schreibens. Lebe wohl, wir werden uns nie wieder sehen.«
Damit schwamm er hinaus, am Korallenriff vorbei, nach Norden zu den schwarzen Gewässern, wo das Eis war. Josh entblößte für den entschwindenen Selkie den Hals.
Noch in dieser Woche starb Luashra. Die Kolonie war auf ein zweites Unglück so bald nach dem ersten nicht vorbereitet, aber ändern ließ sich nichts.
In dieser Nacht hielten sie die Zeremonie unter dem weißen Licht des Halbmonds ab. Alle Selkies bildeten einen Kreis, der von
Weitere Kostenlose Bücher