Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Zeit und Welt

Neue Zeit und Welt

Titel: Neue Zeit und Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
Vom Netzwerk:
Stute flatterte noch eine Weile hilflos herum, um zu erkennen, wohin ihr Geliebter gestürzt war, aber die Sonne ging nun ganz unter, und es war kaum noch etwas zu sehen. Ihre Angst und Verwirrung waren offenkundig, ihr Flug ziellos. Nach einer Zeit schwebte sie tief über den Bäumen nach Südwesten davon und verschwand.
    Ollie sah Jasmine fragend an. Es gab aber nichts zu sagen. Und nichts zu tun. Jasmine unterdrückte die Empfindungen für Beauty, die durch den Vorfall ausgelöst worden waren; überdies war sie Wissenschaftlerin und wies jeden Gedanken daran ab, dies könnte ein Omen gewesen sein.
    Ollie stand langsam auf und atmete mühsam. Er nickte vor sich hin, denn das war eine alte, endlos wiederholte Lektion für ihn: Im Augenblick höchster Liebe sind wir einem Angriff am stärksten ausgesetzt und dem Tod am nächsten; in diesem Augenblick findet der Angriff auch statt, und unausweichlich sterben wir, allein und in Qualen. Soviel schien Ollie festzustehen; so waren die Tatsachen. Zu lernen war daraus natürlich, dass man, um zu überleben, einen Panzer gegen die Liebe erwerben musste. Darin lag Zuflucht. Sonst mochte man ebenso gut auf dem Rücken in einer Grube voller Unglücksfälle liegen; so war die Liebe.
    Sie standen Rücken an Rücken und lauschten, aber kein Geräusch stellte sich ein. Nach einigen Minuten machten sie sich wieder auf den Weg nach Süden, in die Nacht hinein.
     
    Der Sturm wütete von Anfang an mit großer Heftigkeit. Der Regen peitschte herab, der Wind erreichte beinahe Orkanstärke.
    »Wenn die Berge so nah sind, ist das hier wie ein Windtunnel!« schrie Jasmine. »Wir müssen in den Wald hinunter!«
    Ollie nickte. Sie liefen schnell in den Windschutz der Bhong-Bäume am Waldrand. Dort betrommelte sie auch der Regen weniger stark.
    Sie zogen weiter nach Süden, wenngleich merklich langsamer. Buschwerk und Schlammlöcher hielten sie auf, Zweige zerkratzten ihnen die Gesichter, sie stolperten über Wurzeln. Und die Dunkelheit war undurchdringlich, außer, wenn die Blitze zuckten und alles für Sekunden blauweiß aufleuchtete, während der Donner auf die Erde hämmerte. Aber die Schatten der tiefhängenden Äste waren noch unheimlicher als die undurchsichtige Nacht, so dass Jasmine und Ollie unwillkürlich enger zusammenrückten.
    »Wie weit noch, denkst du?« fragte Ollie.
    »Vielleicht die Hälfte des Weges? Willst du rasten?«
    »Bei diesem Wetter?«
    »Nur eine Frage: schon müde?«
    »Erwartest du das?« Es klang abwehrend.
    »Weißt du, du bist schwer festzunageln«, sagte sie lächelnd. »Hast du Angst, jemand könnte dich bei einer Schwäche ertappen?«
    »Was ist eine Schwäche?« Er erwiderte ihr Lächeln.
    »Siehst du? Es gibt doch noch etwas, das ich dir beibringen kann.« Sie lachte, während das Regenwasser an ihrem Gesicht herabströmte. »Schwächen sind etwas, worüber ich dir aus erster Hand viel mitteilen kann. Mach dir Notizen …«
    Er tat so, als halte er in einer Hand einen Notizblock, während er mit dem Mund einen Gänsekiel befeuchtete und ihn über das Papier hielt, als sie weitergingen. Plötzlich warf er die eingebildeten Dinge hin, hieb sich mit dem Handballen an die Stirn und sagte: »Halt – ich habe doch eine Schwäche! Ich kann lesen und schreiben!«
     
    Der Regen troff weiter. In der Ferne konnten sie im Westen hinter einem bewaldeten Tal zuckende gelbe Lichter knistern und flackern sehen.
    »Was ist das?« flüsterte Ollie.
    »Sieht aus wie Neon.« Sie kniff die Augen zusammen und starrte hinüber.
    »Was ist Neon?« Er trat vor.
    »Vergiss es.« Sie hielt ihn zurück. Ein Lichtspeer fuhr durch den Himmel zu dem leuchtenden Hain, zog eine schwelende Spur hinter sich her. Es flammte grell, dann folgte ein donnernder Knall und darauf ein lang gezogener Tierschrei.
    Sie liefen die hundert Meter zu einer großen Lichtung. Dort in der Mitte ragte ein Gewirr undurchdringlicher Art empor – über dem Boden hochgerissen, in die Luft ragend, in einem unentwirrbaren Haufen von Stahlstangen und verrotteten Querbalken –, während an jedem Holzstück Elektrizität heftig Funken versprühte und die Ladungen an den Schienen auf- und abschossen.
    »Eisenbahnschienen«, staunte Jasmine.
    Wieder fuhr ein Blitz in die am höchsten aufragende Schiene – die Ladung fegte durch den Stahl und im Kreis herum, begleitet von Zischen und grellem Licht. Abseits lagen mehrere alte Lokomotiven halb vergraben und zerfallend im Schlamm, neben ihnen ein großer Halbmond aus

Weitere Kostenlose Bücher