Neue Zeit und Welt
waren entweder bei Besprechungen oder unterwegs auf Erkundungsgängen, schrieben am Großen Wörterbuch, arbeiteten im Weinkeller der Bucherei, schliefen, lasen oder aßen.
Jasmine brütete über der Tatsache, dass sie aus diesem Sumpf keinen Ausweg zu finden vermochte. Zwischen Buchleuten und Angestöpselten gab es soviel Streit und Zank, dass man sich auf nichts verlassen konnte. Sie warteten jetzt schon seit zwei Tagen darauf, dass die Angestöpselten zu einer Entscheidung kamen, und für Jasmine hätten das ebenso gut zwei Jahre sein können. Überdies hatte sie wenig Hoffnung, ohne Hilfe hier unten den Verbindungstunnel zu finden, und der Hinweis auf elektrisch geladene Gitter vor allen anderen Öffnungen war besonders beunruhigend. Josh sei in der Festung, hatte Paula erklärt. Mit jeder Stunde rückte die Letzte Dekontamination näher.
Für Jasmine waren es einfach die Höhlen. Sie hätte es nicht genau bestimmen können, aber sie konnte es spüren: unheimlich, erstickend, saugend. Beinahe bösartig. So, als hätten diese Tunnels in ihren schattenhaften Windungen die Macht entwickelt, schwächeren Willen zu unterdrücken, alle Hoffnung zu ersticken. Sie nahm beinahe ein ausgebildetes Bewusstsein wahr, das sie alle einhüllte – oder vielleicht verführte.
Sie schaute zu Ollie hinüber, der in seine klagende Melodie versunken war. Seine Gefühle waren für sie zu verhüllt, als dass sie zu analysieren gewesen wären, seine Maske zu undurchdringlich.
Von einem anderen Eingang her näherten sich Schritte. Ein Schatten sprang auf und erstarrte zwischen Jasmine und dem Feuer. Sie hob den Kopf und blickte auf die Gestalt, die vor ihr stehen geblieben war. »Rose«, flüsterte sie ungläubig.
»Hallo, Jasmine«, sagte Rose.
In der Ecke hörte die Musik auf. Ollie stand auf und ließ die Flöte mit einem Klappern auf den Steinboden fallen. Er kam herangestürzt, blieb stehen; eine lange Sekunde starrten sie einander in die Augen. Dann fielen sie sich in die Arme, drückten sich, bis ihnen der Atem wegblieb, hielten in Schach, was sie an Dämonen bedrängte. Sie waren fünf Jahre zuvor gemeinsam Gefangene gewesen, von Vampiren und Unglücksfällen nach Süden getrieben, gemartert, gedemütigt, eingeschüchtert. Ein Band zwischen ihnen, das nichts zerreißen konnte.
Als sie sich voneinander lösten, waren sie beide wie ausgelaugt durch die inneren Spannungen. Jasmine stand auf und umarmte Rose ein wenig verzweifelt.
»Rose«, sagte sie noch einmal.
»Ja, es ist gut, auch dich zu sehen«, erwiderte Rose.
»Erzähl uns, was geschehen ist«, sagte Jasmine leise.
»Ich gehöre zu den Angestöpselten«, begann Rose, nachdem sie sich zu dritt am Feuer niedergelassen hatten. »Neunpolig. Ich habe in den Sattelbergen die Klappe von meinem Anschluss entfernt, so dass ich wieder empfangen kann.«
»Was empfangen?« fragte Ollie. Durch sein Inneres zuckten so viele Empfindungen, dass er sich einem Zusammenbruch nahe fühlte: Freude über das Wiedersehen mit Rose, die soviel getan hatte, um ihn die ersten Qualen überstehen zu lassen; Furcht angesichts ihres Tonfalls; Hoffnung und Verzweiflung in einem, was Joshs Schicksal anging; grenzenlose Wut über eine solche Welt.
»Das ist schwer zu erklären«, sagte Rose. »Ich könnte keinem von euch klarmachen, wie das war, wie es sich anfühlte, wenn man … angeschlossen war. Wie ich diesen Ausdruck hasse! Angeschlossen sein ist etwas ganz anderes, als der Ausdruck vermittelt, das ist wie … der Aufstieg zu einer anderen Daseinsebene.«
»Aber was empfängst du?« fragte Ollie noch einmal.
»Wenn du uns vielleicht nur erzählen wolltest, wie du hierhergekommen bist«, meinte Jasmine. Auch sie hatte im Tonfall von Rose etwas erspürt, das anders war als früher.
»Ich bin zu Fuß gelaufen«, sagte Rose ein wenig verwundert. »Schwarzwind hat mir den Weg erklärt.«
»Und Josh? Was ist mit Josh?«
Rose blickte zu Boden, bevor sie antwortete.
»Ich habe ihm den Weg gezeigt.« Sie schauderte kaum merklich, bemüht, die Fäden ihres Lebens festzuhalten. »Es ist so schön, euch wieder zu sehen«, fuhr sie fort und blickte von einem zum anderen. »Ich bin so froh, dass ihr hier seid.«
»Weiß Beauty, dass du hier bist?« fragte Jasmine.
Rose presste kurz die Augen zusammen, um den aufzuckenden Schmerz zu vertreiben.
»Beauty wird kommen. Er wird wissen, wo ich hingegangen bin.«
»Du hast es ihm nicht gesagt?«
»Er hätte es mir ausgeredet.«
»Und Josh?« fuhr
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