Neue Zeit und Welt
Ollie erneut dazwischen. »Wo ist Josh?«
»Josh hat mir zugehört, aber begreifen konnte er nicht. Ich habe ihm alles gesagt, aber erklären kann man das nicht. Deshalb habe ich ihm, als er schlief, den Helm weggenommen.«
Ollie sank in sich zusammen.
»Du hast ihn ihm weggenommen.«
»Ich wusste, dass er wieder Anfälle bekommen würde, wenn ihm der Helm fehlte, der vor den Strahlen der Königin schützte. Vergesst nicht, dass ich es war, die Josh den Helm aus einem Drahtnetz gemacht hat, dass ich wusste, wie man ihn vor dem Ruf der Königin schützen konnte. Ich hatte ihn gegeben, ich konnte ihn wieder nehmen.«
»Aber warum? Was hast du damit gewonnen?«
»Ich wusste, dass er ohne den Helm wieder Anfälle haben und in die Stadt getrieben werden würde. Dort wird man ihn operieren und ebenfalls anschließen. Er wird erleben, was ich erlebt habe, er wird begreifen, er wird … dann werden wir ihn befreien und die Kontrolle über die Kabel und Anschlüsse erlangen, wir können uns zusammenschließen und eins sein oder zwei oder Licht oder Lichtlosigkeit oder …«
Jasmine und Ollie sahen einander an. War Rose dem Wahn erlegen?
Sie lachte kurz und verzweifelt auf.
»Deshalb sind wir hier«, stieß sie hervor, »um unsere Anschlüsse wieder zu finden und auch Josh zurückzuholen, er ist Die Schlange, wisst ihr, und nun wird er auch ein Angestöpselter sein, damit wir alle uns mit Der Schlange vereinigen können, damit …«
»Wovon redest du?« schrie Ollie. Der Aufschrei brachte sie zum Verstummen, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen. Sogar Addie sah kurz von ihrer Schreibarbeit auf, bevor sie sich wieder über das Papier beugte. »Du redest von Josh, nicht von irgendeinem Wahnsinnskult«, fuhr Ollie fort. Seine Stimme wurde immer lauter. »Was soll das alles heißen?«
Roses Augen füllten sich mit Tränen. Sie beugte sich zitternd zurück.
»Du verstehst nicht«, murmelte sie. »Nicht einmal ich verstehe ganz.« Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie begriff wirklich nichts. Sie war zu Josh in die Berge gegangen, um es ihm zu erklären, aber nicht einmal ihm hatte sie sich verständlich machen können. Dabei war das früher ganz anders gewesen. Und als er nicht begriffen hatte, waren in ihr alle möglichen sonderbaren Gedanken und Gefühle entstanden – Gefühle, die sie vorher nie gekannt zu haben schien und die trotzdem ein Teil von ihr waren. Zwanghafte Gefühle, beinahe Besessenheit: Josh musste zur Festung, er musste sich mit der Königin vereinigen, Rose musste ihn hinlenken, koste es, was es wolle. Sie spürte diese Dinge als innerste Überzeugung, aber gleichzeitig wusste ein Teil von ihr auch, dass diese Gedanken, obwohl nun in ihrem eigenen Gehirn entstanden, der Königin gehörten – den Empfindungen und Ideen der Königin, in der Zeit, als sie durch das Kabel verbunden gewesen waren, in Roses Gehirn gespeichert; Informationen, durch Zeit und Neuronenverfall und Roses innere Abläufe nun zerstückelt.
Rose war nun ein chaotisches Durcheinander. Ihr Schädel enthielt nicht nur ihr gutes Ich, sondern Bruchstücke von dem der Königin, zu schweigen von Splittern ungeahnt vieler Angestöpselter, mit denen sie in der Festung zusammengeschlossen gewesen war. Daraus setzte Rose sich zusammen, und so fühlte sie sich auch. Manchmal war Harmonie von mehreren Ichs, aber weit öfter Wirrwarr. Sie rang um eine Einheit des Ausdrucks, die sich nicht mehr einstellen wollte, so sehr sie sich auch anstrengte – nur in einem Punkt gab es keine Zweifel für sie: bei der peitschenden, brennenden Gier nach dem Anschluss.
Wenn es die Königin in ihr gewesen war, die Josh den Helm weggenommen hatte, dann versuchte die Rose in ihr, die Vielschichtigkeit ihrer Psyche für Jasmine und Ollie zu erklären; versuchte es, aber ohne Erfolg.
Jasmine spürte etwas davon, nahm wahr, wie sehr Roses Seele gepeinigt war, wie das Dunkel nach Licht strebte. Jasmine besaß ein überaus abgestimmtes Einfühlungsvermögen und hatte nicht mehr als dreihundert Jahre gelebt, ohne das eine oder andere zu lernen, und was ihr jetzt durch den Kopf ging, war, dass Rose wie ein Mensch aussah, dessen Maske zu zerspringen drohte, der verzweifelt zu verbergen trachtete, dass mehrere der Gesichter dahinter nicht sehr schön waren, und sie sich bemühte, die Risse zu verstopfen, bevor diese Gesichter der Welt sichtbar wurden. Jasmine hatte sogar einen Namen für diese innere Marter: Gesichterdruck. Sie empfand großes Mitgefühl
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