Neues Glück für Gisela
„Du kannst mir glauben, es vergeht kein Tag, ohne daß ich dasselbe denke. Sieh, dieser Kleine hier“, er zeigte auf den kleinen Tommi, „unverheiratete Mutter, unbekannter Vater. Nirgends in der Welt ein Plätzchen, wo er hingehört. Die Mutter ist, ja, sie ist, mild ausgedrückt, ein lebender Gegenbeweis für das alte Sprichwort, daß kein Gras auf viel befahrenem Weg wächst, denn sie hat ja Tommi bekommen. Verstehst du, welch riesige Verantwortung ich habe, Gisela? Tommi und viele andere mit ihm haben keinen anderen Platz auf der Welt als Siebeneichen. Es liegt in meiner Hand, ihn so zu erziehen, daß er sich in der Welt zurechtfinden kann. Wenn ich mir das überlege, fühle ich mich beinahe bedrückt von der kolossalen Verantwortung. Ich habe niemand, mit dem ich sie teilen kann. Ich bin ganz allein. Wenn ich Fehler mache, müssen Tommi und andere mit ihm dafür bezahlen.“
„Aber, Willi“, Gisela sprach langsam und zögernd, „ist es denn so, daß du wirklich allein bist, jedes Kinderheim hat doch wohl einen Vorstand, einen Aufsichtsrat oder dergleichen.“
„Gewiß, wir haben einen Aufsichtsrat, aber wir sehen nicht viel davon. Das sind alltägliche, nette Menschen, die ihr eigenes Leben leben und sich nicht viel um uns kümmern. Sie sehen nach, ob die Rechnungen stimmen, ob die Kinder gesund und wohlerzogen sind, und ab und zu fassen sie einen Beschluß, wenn es gilt, einem begabten Kind eine Ausbildung zu verschaffen, aber sonst sehen wir sie nicht. Ich glaube fast, ich muß sagen glücklicherweise. Denn wenn man mit einem Menschen zusammenarbeiten soll in so einer schwierigen Frage wie Kindererziehung, so muß es schon jemand sein, der ein persönliches Interesse daran hat, ein Mensch, der Kinder wirklich gern hat.“
Er schwieg, und das Schweigen zwischen ihnen war voll ungesagter Worte.
Du hast mich, dachte Gisela, aber sie sagte es nicht. Tommi rührte sich im Schlaf, und die beiden gingen still aus dem Zimmer.
Es schneite am Abend des ersten Weihnachtstages. Am nächsten Vormittag wurde alles, was das Heim an Skiern und Schlitten besaß, hervorgeholt, und auf dem Hofplatz lehrte Gisela die Kleinen einen Schneemann bauen. Rolf half ihr dabei. Er konnte ja doch nicht Ski laufen.
Auf dem Hügel, gegenüber dem Haus, trainierten einige der größeren Jungen Slalom unter Willis Anleitung. Die Sonne schien, und es gab nichts als muntere Schreie.
Gisela beobachtete, daß die Jungen sich abwechselnd in die Skier teilten. Jede halbe Stunde wurde gewechselt. Sie sprach mit Rolf darüber, während sie zusammen den Schneemann bauten.
„Ach, weißt du, es geht ja auch so“, meinte Rolf altklug, während er zwei Steinchen als Augen in das Schneemannsgesicht drückte. „Wir haben fünfzehn Paar Ski.“
„Die müssen doch ein Vermögen gekostet haben“, meinte Gisela. Sie dachte an das, was sie für ihre ganze Skiausrüstung bezahlt hatte.
„Von wegen Vermögen“, lächelte Rolf. „Du siehst doch, es sind altmodische Holzskier. Wir haben sie größtenteils aus Kellern und Bodenkammern geholt, von Leuten, die selbst längst Kunststoff- oder Metallskier haben. Und als man im Sportgeschäft in Hoyfoss den Restbestand von den alten Ladenhütern spottbillig verkaufte, hat Willi etliche gekauft. Früher gab es ja nur Holzskier, und damals gab es auch große Skiläufer, denk an die drei Brüder Ruud!“
„Fünfzehn Paar“, sagte Gisela. „Aber ihr seid achtundzwanzig Jungen.“
„Da mußt du aber die Kleinen und mich abziehen“, sagte Rolf. Er sagte es ganz ruhig und ohne Bitterkeit. Und Gisela dachte daran, welch zielbewußte Arbeit Willis hinter dieser Ruhe Rolfs liegen mußte. Er sprach von seinem Gebrechen ohne jede Spur von Gezwungenheit in der Stimme. Gisela schlug denselben Ton an.
„Die Kleinen sollten es ja auch zeitig lernen, weißt du“, sagte sie. „Ihr solltet also sieben Paar kleine Kinderski und noch weitere fünf Paar größere haben, nicht wahr?“
Rolf blickte sie von der Seite an. Dann wandte er sich wieder dem Schneemann zu und formte mit großer Genauigkeit ein prachtvolle Nase. Er antwortete nicht gleich.
„Denkst du daran, nun auch noch Skier zu kaufen?“ fragte er schließlich.
„Gedanken sind zollfrei“, lachte Gisela.
„Ich kenne dich“, sagte Rolf. „Du bist ja verrückt.“ Dann wurde er rot vor Schrecken über seine eigenen Worte. „Verzeihung, ich meinte es nicht so. Ich wollte nicht unhöflich sein.“
„Mein Lieber, das weiß ich doch. –
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