Neugier ist ein schneller Tod - Neugier ist ein schneller Tod - A Mortal Curiosity
Whitechapel ein respektabler und wohlhabender Stadtteil gewesen voller fleißiger Hugenotten. Heutzutage fielen mir nur wenige Bezirke von London ein, die mehr übervölkert und ungesünder waren, und ganz gewiss herrschte in keinem davon eine so kunterbunte Mischung. Whitechapel war ein Schmelztiegel, in den Menschen aus sämtlichen Ecken Europas – und von noch viel weiter her – strömten. In den Häusern wohnten so viele Menschen aufeinander, wie in ihrem stinkenden Inneren Luft zum Atmen fanden. Während unseres Besuchs hörten wir ringsum ein babylonisches Wirrwarr von Sprachen. Die Läden boten unbekannte Lebensmittel an, sehr zum Entsetzen von Sergeant Morris, dessen Geschmacksnerven nichts tolerierten, das exotischer war als gelierter Aal. Es gab Pfandleiher in Hülle und Fülle. Überall gab es Ständer mit gebrauchter Kleidung und Karren, auf denen Töpfe und Pfannen feilgeboten wurden.
Wir bemerkten zahlreiche Juden, die in der Gegend zuhauf wohnten. Die Männer waren größtenteils leicht zu identifizieren in ihren Kaftanen und mit den Ringellocken, die unter schwarzen Hüten hervorlugten. Ich wusste, dass die jüdische Gemeinde zum größten Teil aus fleißigen, gesetzestreuen Arbeitern bestand, die »unter sich blieben und sich aus allem heraushielten«, wie das Sprichwort so schön besagt.
Von den anderen begegneten wir nicht vielen. Der eine oder andere streifte uns absichtlich oder versehentlich – Whitechapel war berüchtigt für seine Kleinkriminellen, Taschendiebe und Prostituierten. Alles trieb sich auf den Straßen herum und sprang zwischen Handkarren, Rollwagen und Gespannen umher und behinderte ganz allgemein den Verkehr. Die Bürgersteige waren gleichermaßen verstopft, und die Menschen stießen und drängten. Unser Kutscher brüllte mehr als einmal und stieß lästerliche Flüche aus.
Wir wurden von dem Fürsorgebeamten und einem Gentleman empfangen, der dem Ausschuss der Vormünder des Armenhauses angehörte. Der Letztgenannte war in aller Hast von seinem Geschäft hergerufen worden und gar nicht darüber erbaut. Er flehte uns an, uns kurz zu fassen – Zeit, so informierte er uns, bedeutete Geld.
Um unser Begehr zu diskutieren, wurden wir in einen unbenutzten Raum geführt, nachdem der Fürsorgebeamte die schlampig gekleidete Frau hinausgeworfen hatte, die dort den Boden gewischt hatte. Sie ging mit ihrem Eimer schmutzigen Wassers und hinterließ einen unangenehmen Geruch und das Gefühl von Feuchtigkeit und Depression.
»Wenn ich recht informiert bin, hat der Ausschuss die Verantwortung für verwaiste Kinder oder ausgesetzte Kinder, die im Armenhaus aufgenommen wurden«, begann ich, nachdem wir auf einer Seite der langen Tafel Platz genommen hatten. Die beiden Repräsentanten des Armenhauses hatten Sitzplätze uns gegenüber eingenommen.
»Das tut er, Sir, das tut er – sonst wäre Mr. Stoner gewiss nicht hier!«, schnappte der Fürsorgebeamte. »Zuerst kommt eine Angelegenheit zu mir, und ich entscheide, was zu tun ist. Ich stelle sie unter Armenrecht. Ein noch sehr junges elternloses Kind kann selbstverständlich nicht gleich in das Armenhaus gebracht werden. In diesemFall müssen andere Arrangements getroffen werden, doch das fragliche Kind steht weiterhin auf der Liste der Armen, und der Ausschuss zählt es zu den ihm Anbefohlenen. Dürfte ich nach dem Grund für Ihr Interesse fragen?«
Der Sprecher hatte sich als Mr. Potter vorgestellt. Er war ein spindeldürrer Bursche, der jedes Alter hätte haben können, doch ich schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre. Seine hohe, vortretende Stirn wurde gekrönt von einem zurückweichenden Schopf verblasster roter Haare, und seine Gesichtsfarbe war von jenem sommersprossigen Weiß, das man häufig bei dieser Haarfarbe antrifft. Sein verkniffener Gesichtsausdruck erweckte den Eindruck eines Mannes, der streng nach den Vorschriften lebte. Sein Kollege Mr. Stoner war im Gegensatz dazu pummelig und kurzatmig, besaß rosige Gesichtsfarbe und trug zerknitterte Kleidung. Keiner von beiden wirkte erfreut über unser Auftauchen. Beide waren umgeben von einer Aura des Misstrauens.
Zusätzlich zu alledem ging von Potter noch ein schwacher Geruch nach Alkohol aus, welchen er dadurch zu verbergen trachtete, dass er sich ununterbrochen Pastillen in den Mund stopfte, die stark nach Veilchen rochen. Seine Kleidung war schmuddelig. Branntwein, Veilchen und schweißfleckige Kleidung sind nichts, was Geselligkeit anzieht. Stoner hatte eine
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