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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Betrieb durchzusetzen, von dem Matthew Eason weiß, dass dafür kein Geld vorhanden ist. Es kommt der Moment der Wahrheit, sagte der Gewerkschaftsboss, in dem sich die Arbeiter entscheiden müssen, einer Gewerkschaft zu folgen, die augenblicklich mehr Geld verspricht, aber damit ein Unternehmen ruiniert, sodass zum Schluss alle auf der Straße sitzen, oder einem Boss zu folgen, der nicht korrupt ist. Die Diskussion dauerte nicht lange. Es wurde schnell abgestimmt. Die schlecht bezahlten Arbeiter dachten eher an den höheren Lohn in der nächsten Woche als an die Arbeitslosigkeit in der übernächsten. So war auch das Ergebnis für Matthew Eason enttäuschend: Die Mehrheit stimmte gegen ihn und lief zur Konkurrenzgewerkschaft über.
    Am Abend verschwand der Krieger für die Gerechtigkeit der kleinen Leute wieder mit seinen Leibwächtern in irgendeinem U-Bahnschacht in der Mitte von New York. Wohin er fährt, wissen nur seine Begleiter. Seine Verlobte hat sich längst abgeseilt. Eines ist wohl klar, dachte ich, als ich ihn in die Nacht verschwinden sah: Alt wird Matthew Eason nicht werden.
    Einer wird ihn zur Strecke bringen, der Killer oder die Angst vor dem Killer.

Tot oder lebendig – der Auftrag
des Kopfgeldjägers
    Als Dominique Strauss-Kahn, die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, die Arme rechts und links in der harten Schraubzwinge der Hände von Kriminalbeamten, durch die hohle Gasse der Blitzlichter und Kameras vors Jüngste Gericht in Manhattan geführt wurde, haben in Frankreich, aber auch in Deutschland, viele Kommentatoren beklagt, dass hier ein Mensch vorverurteilt werde. Der »Perp walk« sei ein Pranger. Perp ist die Abkürzung für »perpetrator«, was so viel wie Übeltäter heißt. Und wir alle kennen diese immer wiederkehrende Szene nicht nur aus Hollywood-Filmen, sondern auch aus der Wirklichkeit. Unvergessen ist für viele der Moment, als Lee Harvey Oswald, der Mörder von John F. Kennedy, auf dem Perp Walk von Jack Ruby erschossen wurde.
    Heute wissen wir, dass DSK – so sein Spitzname in Frankreich – unschuldig war. Zumindest was das Strafrecht angeht. Er hat ja nicht lange im Gefängnis gesessen, sondern kam, gegen eine hohe Kaution und weitere Auflagen, wieder auf freien Fuß. Und auch das entspricht dem amerikanischen Justizsystem, das keine Untersuchungshaft kennt, wie sie in Europa üblich ist.
    Ein Untersuchungshäftling wird in die Zelle eines normalen Gefängnisses gesteckt, wenn er Pech hat, gleich zu einem verurteilten Gewaltverbrecher. Und wie grässlich und brutal es in amerikanischen Gefängnissen zugeht, wissen wir nicht nur aus vielen Hollywood-Filmen, sondern auch aus dem Buch von Jack Henry Abbott.
    Um Beschuldigten das Gefängnis zu ersparen, bietet ihnen das amerikanische Rechtssystem an, gegen Zahlung einer Kaution, deren Höhe ein Richter festlegt, in Freiheit auf die Verhandlung zu warten.
    Diese Rechtspraxis ist uralt. Sie stammt aus den Zeiten des normannischen England. Weil damals in feuchte Kerker und dunkle Verliese gesperrte Angeklagte häufig schon elend starben, bevor ihr Gerichtsverfahren begonnen hatte, wurden sie ihrer Familie oder der Dorfgemeinschaft übergeben, die dann für deren Erscheinen bei Gericht hafteten. Doch weil so mancher vor Beginn seines Prozesses verschwand, entwickelte sich der Beruf des Kopfgeldjägers.
    Die USA sind heute das einzige Land der Welt, in dem Kopfgeldjäger noch ihrer archaischen Arbeit nachgehen dürfen.
    Eine Million Dollar für die Kautionszahlung hat selbst nicht jeder Chef eines Internationalen Währungsfonds zur Hand, doch zum Glück ist Strauss-Kahn mit einer sehr reichen Frau verheiratet, die das Geld bei Gericht hinterlegte.
    Was jedoch macht ein Kleinkrimineller, der wegen Einbruchs oder Drogenhandels verhaftet wird und fünftausend Dollar Kaution nicht aufbringen kann? Auch er bekommt seine Chance. Schließlich darf er einige wenige Anrufe aus dem Gefängnis machen, etwa zu einem Verwandten, einem Anwalt oder zu sonst jemandem, der ihm die Kaution besorgen kann.
    Für den Fall, dass er niemanden kennt, der genügend Geld aufbringen kann oder will, klebt schon neben dem Telefon im Gefängnis der Werbespruch eines Maklers, der Kautionen stellt. Auch das gehört zum amerikanischen System: Gegen zehn Prozent der Kautionssumme garantiert ein Versicherungsunternehmer dem Gericht die Kautionszahlung, genannt »bail bond« – bail steht für Kaution, bond für Bürgschaft. Und so heißt der Makler der

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