Neugier und Übermut (German Edition)
verdienen. Gut zweitausend suchen die Bailbond-Ausreißer so nebenbei, aus Abenteuerlust und Nervenkitzel. Tagsüber Friseuse oder Buchhalter, abends und am Wochenende Kopfgeldjäger. Nach dem Mord des jungen Pärchens bei Phoenix fegte über die ganzen Vereinigten Staaten ein Sturm der Entrüstung gegen Kopfgeldjäger hinweg. Politiker und Kommentatoren jaulten nach strengen Regeln, um der Selbstjustiz ein Ende setzen zu können.
Bondsman Irving Newman übergibt den Kopfgeldjägern die Kopien der Bailbond-Verträge. Und nun beginnt der erste Teil der Arbeit. Sie müssen sich Fotos besorgen. Doch das fällt ihnen nicht schwer. Stan hat jahrelang im Gefängniswesen gearbeitet, Marvin war sogar nach seiner Zeit bei der Militärpolizei der Air Force als Chefuntersuchungsbeamter des New Yorker Gefängniswesens angestellt, so haben sie zahlreiche Kontakte zu Gerichten, zur Polizei und erhalten dort unter der Hand alle vorhandenen Informationen.
Bei Gericht in Brooklyn hat Stan die Fotos der beiden Gesuchten sofort erhalten. Häufig arbeiten Marvin und Stan an zehn, zwölf Fällen gleichzeitig, denn es kann Monate dauern, bis sie genügend über einen Flüchtigen erfahren haben, um ihn festnehmen zu können. Manche Reise nach Ohio, Kalifornien oder Florida ist vergeblich – sie verpassen den Gesuchten um wenige Stunden. Kriminalromane lesen die beiden nicht: Ihre Wirklichkeit sei spannender – sagen sie – und dazu auch noch echt.
Der zweite Teil der Arbeit ist mühselig, kann lange dauern, ist manchmal hoffnungslos. Täglich sind sie unterwegs, zusammen oder alleine. Manchmal übernimmt einer von ihnen Aufträge als Privatdetektiv. Unangenehme Scheidungsfälle sind darunter, Schnüffeleien, wie wir sie aus dem Kino kennen.
Fotos der Flüchtlinge kleben überall in ihrem Auto. Die Gesichter sollen gegenwärtig sein. Und manchmal läuft ihnen auch einer aus Versehen über den Weg. In New York ist alles möglich. Und sie haben ein Gespür dafür, wo sie suchen müssen.
Seit Monaten suchen sie zum Beispiel Jun. Einen Kerl, der wegen Raubes und versuchten Mordes angeklagt ist. Die Kaution beträgt 15 000 Dollar. Wenn sie ihn fassen, haben sie 3000 Dollar verdient. Marvin und Stan kennen überall Leute, doch den meisten Informanten müssen sie Geld zahlen. Nicht viel, aber doch einen Zehner oder eine Flasche Whiskey. Und die Leute kennen auch sie und vertrauen ihnen. Denn wenn der Flüchtige nach ihrem Tipp gefasst wird, dann gibt es Geld, und daran möchte man teilhaben.
Marvin und Stan halten an einer Kneipe, in der Jun häufiger verkehren soll, erkundigen sich und erfahren die Adresse von Juns Mutter.
Es ist weit nach Mitternacht. Eine Informantin hat berichtet, Jun komme manchmal gegen fünf Uhr früh seine Mutter besuchen und verschwinde wieder bei Tagesanbruch. Sie warten fast schon zwei Wochen.
Es schüttet aus Eimern, und zwar so stark, dass die Amerikaner dazu sagen würden, es regne Katzen und Hunde. Für die Franzosen fallen Hellebarden vom Himmel. Kurz: Es gießt wie verrückt. Wir sitzen in Stans riesigem Schlitten, die Scheiben sind beschlagen und ich frage sie über ihre Arbeit aus.
»Haben Sie denn schon mal Leute aus dem Ausland geholt?«
»Wir sollten mal jemanden aus Kanada holen«, erzählt Marvin, »Aber auch für uns ist es illegal, in ein fremdes Land zu gehen und dort jemanden hops zu nehmen. Wir haben es dann so gemacht: Wir sind nach Kanada gefahren und haben uns mit Polizisten getroffen, mit denen wir uns über die Jahre angefreundet hatten. Mit denen haben wir ein Spielchen ausgekaspert. Das ging so: Sie haben unser Opfer zur Befragung bestellt und dann an die Grenze in ein Zollgebäude gebracht. Stan und ich standen auf der einen Seite eines langen Raumes, die schon US-Territorium war. Die andere Seite war Kanada. Die Polizei brachte ihn in den Raum und bat ihn, sich hinzusetzen und zu warten. Wir holten in der Zwischenzeit unsere Zigarren heraus und fingen an zu jammern, weil wir kein Feuer hätten. Also haben wir ihn gerufen. Hey, haben Sie Feuer? Wir brauchen Feuer für unsere Zigarren. Da kam er auf unsere Seite, und weg war er.«
»Vor Jahren, bevor Marvin und ich uns zusammentaten«, sagte Stan, »habe ich ab und zu Leute aus Mexiko geholt. Ich ließ mich fahren und lag mit dem Kerl, den ich geholt hatte, auf dem Boden hinten, hielt ihm eine 45er an den Kopf und sagte, wenn du schreist, bist du tot.«
Das klang wie eine Räuberpistole, vielleicht war es aber auch wirklich so.
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