Neugier und Übermut (German Edition)
Wir haben damit den Auftrag erfüllt. Wir hatten seinen Körper gefunden.«
»Bekommen Sie auch dann Ihr Geld, wenn Sie nur den Toten finden?«
»Ja, das macht keinen Unterschied. Denn sonst würde die Polizei vielleicht ein Leben lang nach ihm suchen. Wir müssen nur den Totenschein vorlegen. Dafür bekommen wir zwanzig Prozent der festgelegten Kaution – und Spesen, versteht sich.«
Ihre Aufträge erhielten Marvin und Stan von Bondsman Irvin Newman, der sein Büro gegenüber dem Brooklyn-House of Detention in der Atlantic Avenue hat.
Das Brooklyn-House of Detention ist ein modernes Hochhaus, aus dem immer wieder einmal Gefangene ausbrechen. Weil ich über die Zustände in amerikanischen Gefängnissen berichten wollte, hatte ich bei der zuständigen Behörde um Genehmigung gebeten, in diesem Haus drehen zu dürfen, die ich prompt erhielt. Der zuständige Dezernent der Stadt begleitete mich mit meinem Kamerateam und zeigte uns erst einmal die angeklagten Mörder in ihren Zellen. Sie sahen fast alle aus wie brave sizilianische Bauern, nicht wie gemeingefährliche Irre. Die Zellen waren zum Gang hin nur mit Gittern verschlossen und gerade einmal so breit, dass man seine Arme nach rechts und links ausstrecken kann. Ein Bett, eine Toilette, ein Tisch. Das war’s. Und alle Mörder in der gleichen grünen Gefängniskleidung.
Als ich einen Wärter fragte, wie es immer wieder Gefangenen gelänge, auszubrechen, sagte er offen in die Kamera – vor dem Dezernenten: »Wärter verdienen wenig Geld. Da schmuggeln sie für die Gefangenen schon mal Drogen oder aber auch eine Waffe ein. Und dann passiert’s halt.«
Gegenüber dem Gefängnis verspricht die Leuchtreklame am Haus von 302 Atlantic Avenue: »Bail Bonds«. Neben der Glastür lassen große Schaufenster Licht in den dunklen Schlauch, in dem vier Schreibtische stehen. Hinten sitzt Irving Newman. Seit mehr als vierzig Jahren betreibe er sein Geschäft, steht im Jahr 2011 auf seiner Website, wo er auch einen kostenlosen Anruf anbietet oder aber die Möglichkeit, sich per E-Mail an ihn zu wenden. Überall in den USA »haben wir Beziehungen zu den Gerichten«, verspricht er.
Marvin und Stan haben mich mitgenommen, als sie bei Irvin Newman Unterlagen zu neuen Fällen abholen. Der eine ist während seines Prozesses abgehauen und treibt sich nach Aussagen seiner Mutter in New York rum, ein anderer hält sich irgendwo versteckt. Irving Newman kennt einen Informanten, der einen Hinweis geben könnte. Fotos der Geflüchteten hat er allerdings nicht. Aber beim zweiten Fall handelt es sich um einen großen Fisch, die Kaution beträgt 100 000 Dollar. Ein Wirtschaftskrimineller, 35 Jahre alt, verheiratet, ein Kind.
»Ein Familienvater«, sagt Marvin, »der wird nicht allzu weit weg sein.«
Die beiden Kopfgeldjäger spielen den harten Mann.
Deshalb fragte ich auch Irving Newmann, wie es denn stehe mit dem »dead or alive«.
»Theoretisch ist es das Gleiche wie in alten Zeiten«, sagte er. »Es geht tatsächlich um den Körper. Aber natürlich suchen Marvin und Stan nicht danach. Wirklich nicht. Sie versuchen die Angelegenheiten so weit wie möglich ruhig durchzuführen. Meistens klappt es auch. Nur in seltenen Fällen müssen sie Gewalt anwenden.«
In den letzten Augusttagen des Jahres 1997 aber wurde die Welt der Kopfgeldjäger in den USA durchgerüttelt: von wegen dead or alive.
Am frühen Morgen drangen fünf Männer in ein Haus in einem Vorort von Phoenix, Arizona ein. Sie fesselten drei der Bewohner und versuchten, die verschlossene Tür zum Schlafzimmer aufzubrechen. Darin hielten sich Chris Foote und Spring Wright, ein junges Pärchen in den Zwanzigern, auf. Foote ergriff sein Gewehr und schoss durch die Tür. Als der Schusswechsel endete, waren Foote und Wright tot.
Die fünf Eindringlinge wurden verhaftet und gaben dann an, sie seien Kopfgeldjäger, die aber jemand anderen gesucht hätten. Und weil Foote angefangen habe, durch die Tür zu schießen, sie also nicht hatten sehen können, wer sich da wehrte, hätten sie zurückgeschossen.
Zwei Wochen später, nach weiteren Nachforschungen, erklärte die Polizei, sie glaube, die Geschichte mit der Kopfgeldjagd sei nur eine Ausrede, und dass die fünf Männer, die sich hinter Skimasken versteckt hatten, normale Räuber wären, deren Einbruch misslungen war. Aber diese Nachricht kam zu spät für die Gemeinde der Kopfgeldjäger, rund zweihundert im ganzen Land, die ihren Lebensunterhalt im Hauptberuf mit Menschenjagd
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