Neugier und Übermut (German Edition)
Mir kam das Leben der Kopfgeldjäger sowieso wie Kino vor. Manchmal ist es halt schwer, zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu trennen.
Es war inzwischen vier Uhr nachts. Und goss immer noch. Marvin stieß einen leichten Pfiff aus.
»Da ist er«, sagte Stan, »aber verschreck ihn nicht.«
Sie ließen Jun erst einmal ins Haus gehen, warteten eine halbe Stunde, und rannten dann leichtfüßig und leise durch den Regen. Marvin zog den Revolver auf dem Weg zur Tür. Und dann ging es ganz schnell. Sie schleppten Jun in Handschellen zum Wagen.
Eine halbe Stunde später saß er in der Zelle des Brooklyn- House of Detention.
Doch das amerikanische Recht ist verrückt: Auf verdoppelte Kaution hin kann Jun in wenigen Wochen wieder frei sein. Und vielleicht taucht er wieder unter. Dann beginnt die Jagd von neuem.
Marvin und Stan haben sich irgendwann getrennt.
Marvin Badler wurde Chef der Sicherheit bei der israelischen Luftfahrtgesellschaft EL AL, heute betreibt er ein Geschäft namens »The Spy Mart« in New Jersey.
Stan Rivkin spielt immer noch den Kopfgeldjäger, obwohl er nach drei Herzinfarkten dazu körperlich längst nicht mehr in der Lage ist. Seine alte Riesenkutsche trägt das Nummernschild »Hunter 1«. Und wenn die jungen Drogendealer in Brooklyn ihn anrauschen sehen, dann lachen sie – und rennen weg. Da kommt der Kopfgeldjäger! So, als gäb’s die nur im Kino.
Der verzweifelte Erfinder
der Neutronenbombe
Die Sonne schien, als ich zu Sam Cohen fuhr. Immer den Sunset Boulevard entlang. Es war ein Sommertag, an dem ich mir eines dieser großen amerikanischen Cabriolets gewünscht hätte. Den Arm links raushängen lassen, lässig, mit der rechten Hand auf dem Lenkrad, den dahingleitenden Wagen steuern.
In Beverly Hills scheint selbst in der Wirklichkeit ein Traum aufzuleben.
Das Kamerateam und ich hatten für einen vernünftigen Preis Zimmer im »Beverly Hills«-Hotel erhalten, dort wo wenige Jahre zuvor das berühmte Foto von Faye Dunaway im seidenen Morgenmantel am Schwimmbad aufgenommen worden war. Am Morgen nachdem sie den Oscar für ihre Rolle in dem medienkritischen Film »Network« von Sidney Lumet bekommen hatte. Grüblerisch schaut sie vor sich hin, als wäre sie verwirrt, nachdem sie all die Zeitungen gelesen hat, die zu ihren Füßen scheinbar wie hingeschmissen liegen. Ich vermute, es war ein gestelltes Bild. Sie hat den Fotografen später geheiratet.
Auch Samuel Cohen wohnte am Sunset Boulevard, doch die Adresse war das Einzige, was er mit Filmstars gemeinsam hatte. Auf den ersten Blick wirkte er langweilig. Aber er war der Mensch, der die Neutronenbombe erfunden hatte.
Wir befinden uns im Jahr 1983.
Zwei Jahre zuvor ist Ronald Reagan zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden, und nun wird endlich die Erfindung, die Samuel Cohen schon 1958 gemacht hat, seine Bombe, gebaut werden. In Europa gilt sie als »Symbol der Perversion des Denkens« – so der Bundesgeschäftsführer der SPD, Egon Bahr. Dabei hat sich Samuel Cohen bei seiner Erfindung nichts Böses gedacht. Die Bombe tötet Menschen mit Strahlen und lässt Häuser stehen.
Sein Tagesablauf ähnelte dem eines Buchhalters: Er stand früh auf, fuhr kurz vor acht ins Büro und kam abends gegen fünf nach Hause, wo ihn sein kleiner Pudel freudig begrüßte. Die Familie war meist ausgeflogen. Entweder mähte er dann den Rasen, schaute fern, während er sein tägliches Training mit den Hanteln absolvierte oder, was ihm besonderen Spaß machte, er goss sich einen Drink ein und las Comics.
Als ich an diesem Sonntagnachmittag bei ihm vorfuhr, stand der Rasenmäher nach getaner Arbeit noch vor dem Haus. Die abgeschnittenen Grashalme verströmten frischen Duft. Samuel Cohen saß auf der Terrasse, um ihn herum lagen fast so viele Zeitungen, wie bei Faye Dunaway auf dem Foto am Schwimmbad, denn am Wochenende waren darin seitenlang Comics abgedruckt.
Wir plauderten locker über das angenehme Wetter, über die Sonne, während das Kamerateam seine Gerätschaften aufbaute. Und er bat mich, ihn Sam zu nennen.
Am Vormittag hatte der große, schwere Mann Tennis gespielt. Am Abend zuvor war er mit seiner Frau und Freunden in einem Restaurant zum Essen gewesen.
Theaterbesuche langweilten ihn.
Er wirkte auf mich nicht wie ein Wissenschaftler, der er – streng genommen – ja auch nie war. Geistreiche Blitze eines Intellektuellen waren von ihm nicht zu erwarten. Und dass er die Neutronenbombe erfunden hatte, beschäftigte ihn nicht
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