Neugier und Übermut (German Edition)
ich Robert Boulay an. Eine halbe Stunde später kam die Antwort. Reicht es morgen früh um halb neun? Und wenn ich dann abends bei Jacques zum Dîner eingeladen war, entschuldigte ich mich dafür, dass ich ihn umgangen hatte. Aber er zuckte nur mit den Schultern.
Ja, so war das in Paris. Der direkte Weg führt häufig nicht ans Ziel.
Als ich meinen Posten als ARD-Studioleiter in Frankreich antrat, wusste ich: Du musst zum Präsidenten François Mitterrand, zum Außenminister und zum Verteidigungsminister einen besonderen Zugang finden. Und das geht nur über deren Umfeld. Ich schaute mir das Organigramm des Elysée an und machte Termine, um mich vorzustellen: beim Generalsekretär Jean-Louis Bianco, der fließend deutsch spricht, dem außenpolitischen Berater Hubert Védrine, der später Außenminister werden würde, und bei dessen Mitarbeiter Jean-Michel Gaillard. Mit Gaillard befreundete ich mich während mehrerer Mittagessen in guten Restaurants. Später war Gaillard, der leider jung starb, eine kurze Zeit Intendant von Antenne 2, dem zweiten französischen Fernsehsender. Als ich nach seiner Wiederwahl zum Staatspräsidenten ein längeres Fernsehgespräch mit François Mitterrand führen wollte, mir aber wenig Hoffnung auf eine Zusage machte, denn der Time -Korrespondent Friedel Ungeheuer, den ich aus meiner Zeit in New York kannte, hatte mir erzählt, er habe gerade eine Absage erhalten, obwohl Time einen Titel über Mitterrand plane, besprach ich mich mit Jean- Michel.
»Das ist doch ganz einfach«, sagte der. »Du kennst den Generalsekretär Bianco, du kennst Védrine, du kennst die Pressereferentin. Also schreibst du einen Brief an Bianco, und gibst parallel dazu die Anfrage bei der Pressereferentin ab. Dann wird Bianco die Anfrage in der Morgenrunde mit Mitterrand vor- tragen. Da sitzt Védrine, da sitze ich auch, und wir werden es stark befürworten.«
So ging ich vor.
Zwei Tage später rief Jean-Michel Gaillard mich an. Mitterrand habe zugesagt, die Pressereferentin werde mich offiziell informieren. Aber die Pressereferentin informierte mich nicht. Nicht an dem Tag, nicht am folgenden Tag, noch am Tag darauf. Also rief ich sie an. Das sei noch nicht entschieden, sagte sie kurz angebunden.
»Was ist los?«, fragte ich Jean-Michel. »Die Pressereferentin sagt, nichts sei entschieden.«
»Doch, doch, du hast die Zusage«, antwortete er, »aber sie wird es dir erst sagen, wenn sie auch den genauen Termin im Kalender des Präsidenten festgemacht hat.«
So geschah es.
Ein halbes Jahr zuvor hatte ich mein letztes längeres Gespräch mit Mitterrand geführt. Er ist von den Politikern, die ich getroffen habe, derjenige, der mich am meisten faszinierte, mir am meisten Achtung einflößte – wegen seiner Bildung, wegen der Autorität, die er ausstrahlte, wegen seiner geheimnisvollen Aura, die ihm den Spitznamen »Sphinx« eingetragen hatte. Ich hatte ihn nach seiner Lektüre gefragt, und er hatte mir gesagt, ich solle es nicht weitersagen, aber er lese vermutlich mehr deutsche Literatur als französische. Es war zuerst vielleicht Höflichkeit, die ihn zu diesem Satz verleitete. Aber dann erzählte er: »Ich habe viel Hesse gelesen. In diesem Sommer aber habe ich zwei Bände der Tagebücher von Thomas Mann gelesen, wobei die nicht besonders interessant sind. Und ich finde zurück zu meinen klassischen Autoren wie Böll. Aber meiner Meinung nach wird zu wenig übersetzt.«
Als ich Mitterrand nun zu dem verabredeten Gespräch nach seiner Wiederwahl im Elysée traf, erinnerte er sich an unser Gespräch über deutsche Literatur und knüpfte gleich daran an. Jetzt lese er die Tagebücher von Klaus Mann. Die seien spannend, nicht so langweilig wie die von Thomas Mann. Klaus Mann quäle sich. Das sei hoch interessant.
Nachdem François Mitterrand als Präsident wiedergewählt worden war, karikierte ihn die französische Presse als »Roi«, als König mit einer Allonge-Perücke wie einst Ludwig XIV. sie trug. Das war eigentlich nichts Neues. Schon De Gaulle und auch Valéry Giscard d’Estaing waren so gezeichnet worden. Nun überlegte ich mir, wie ich Mitterrand nach dem »Roi« – nach dem Königlichen im Staatspräsidenten – fragen könnte, ohne gleich eine scharfe Reaktion zu bekommen. Denn dafür war Mitterrand bekannt.
Ein glücklicher Zufall wollte es, dass ich in der Vorbereitung zu dem Gespräch einen Essay des französischen Politologen René Rémond las. Er verglich den Bonapartismus mit dem
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